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Der Grundgedanke.

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Lünetten und Gewölbekappen. Erst nachdem der Papst, heim-
gekehrt, die fertige Decke, also auch die „novae picturae“, d. h.
die Gemälde der zweiten Hälfte der Decke gesehen und am
14. August eine Messe hat halten lassen, beginnt die Thätigkeit in
der Kapelle von Neuem. Von August 1511 bis Oktober 1512 ent-
steht der zweite Theil der Malerei: die Fresken in den Lünetten
und Gewölbekappen. Am 31. Oktober wird die Kapelle dem Be-
suche geöffnet.
Als Michelangelo, seinem bildnerischen Triebe folgend, die an
ihn gestellte Anforderung, eine malerische Dekoration im Sinne
eines Pinturicchio zu entwerfen, zurückwies und sich die un-
begreifliche, widerspruchsvolle Aufgabe stellte, die Decke der Kapelle
mit Menschengestalten von eindringlich plastischer Wirkung zu
füllen, musste sein auf das Typische gerichteter Geist sich für die
Wahl eines religiösen Stoffes entscheiden, der ihm die Freiheit ge-
währte , allgemeines, von allen historischen Bedingungen' gelöstes
Menschliches zu schildern. Er brauchte nicht lange zu suchen,
musste sich ihm doch ohne Weiteres der alttestamentarische Mythus
aufdrängen, als er den Zusammenhang erwog, in welchem die
Deckenbilder mit den unter Sixtus IV. ausgeführten Wandbildern
florentinischer und umbrischer Meister zu setzen waren. In den
Geschichten aus dem Leben Moses und Christi war die seit alt-
christlicher Zeit übliche typologische Gegenüberstellung von Szenen
des Alten und Neuen Testamentes, die Concordia veteris et novi
testamenti, in neuer, besondere Momente betonender Weise ge-
bracht worden. Sie forderte unmittelbar zu einer Ergänzung und
Abrundung des Gesammtbildes von Sünde und Erlösung der Mensch-
heit auf. Es galt hier durchaus nicht, etwas Neues zu erfinden,
sondern nur Vorstellungen, welche das ganze Mittelalter beherrscht
hatten, neuen Ausdruck zu verleihen. Die Gewalt dieses neuen
Ausdruckes, den Michelangelo fand, hat vielfach verkennen lassen,
wie durchaus er sich mit seinen Darstellungen in den allgemein
herrschenden, volkstümlichen Vorstellungen bewegt. Man hat das
Werk als einen Richterspruch über die damaligen italienischen Ver-
hältnisse (Michelet), als einen Protest gegen die Kirche, in der das
Christenthum entstellt sei (Levi), aufgefasst, es aus platonischen
Anschauungen gedeutet (Hettner und Ludwig von Scheffler), es
aus rein künstlerischen Rücksichten als eine Schilderung der Mensch-
heit nach ihren kleinsten und grössten Lebensäusserungen erklärt
 
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