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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,1): Der Künstler und seine Werke: Abth. 1 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47068#0324
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Die Vertheilung des Gegenständlichen.

(W. Henke), es für eine Veranschaulichung der Charsamstags-Lithur-
gie gehalten (M. Spahn) — welche Verschiedenartigkeit der An-
sichten nur beweist, wie mannigfaltige Interpretationen ein grosses
Kunstwerk mythischen Inhaltes gestattet, nicht aber darüber täu-
schen darf, dass die Konzeption eines solchen immer aus einfachen
und natürlich gegebenen Vorstellungen hervorgeht. Es ist, wie
gesagt, ein Altüberliefertes, in ganz geläufigen Vorstellungen war es
den Christen jener Zeit vertraut. Michelangelo knüpft einfach an
die Tradition an, und zwar dem ganzen Zusammenhang seiner Dar-
stellungen nach, an die mittelalterliche Formulirung, in welcher
neben den Propheten auch den Vorfahren Christi ein bedeutender
Platz eingeräumt ist; und indem er, tiefsinnig das Gegebene sich
deutend, neue Beziehungen und Ideen in dem Stoffe entdeckte und
offenbarte.
Räumliche Bedingungen wurden mitentscheidend für die Aus-
wahl der Szenen und deren Einrahmung durch dekorative Figuren.
Der gewählte Vorwurf: die in Schuld und Leiden verstrickte
sündige Menschheit, die, der Erlösung bedürftig, deren Verheissung
empfängt, schloss vier verschieden zu gestaltende Vorstellungs-
kreise in sich:
1. Die Historien von der Schöpfung, dem Sündenfall und
dessen Folgen.
2. Historien von Gottes wunderbar rettendem, die Erlösung
vordeutendem Eingreifen zu Gunsten seines erwählten
Volkes.
3. Die Propheten und Sibyllen.
4. Die Vorfahren Christi.
Die allgemeine Vertheilung der Gruppen auf das Gewölbe er-
gab sich ohne Weiteres: die Darstellungen der Schöpfung und des
Sündenfalles erhielten ihren Platz an dem Spiegel des Gewölbes, die
Wunder an den vier Eckstichkappen; die Propheten und Sibyllen
traten an die Stelle der zuerst geplanten Apostel an den Zwickeln;
den Vorfahren Christi wurden die Lünetten und Stichkappen an-
gewiesen. Für andere alttestamentarische Historienbilder musste
irgend ein untergeordneter Platz gefunden werden.
Die Wahl der einzelnen Darstellungen und damit die be-
sondere gedankliche Ausgestaltung des Programmes wurde wesent-
lich durch künstlerische Rücksichten bestimmt. Die Zahl der
 
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