Die Propheten und Sibyllen.
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6. Die Propheten und Sibyllen.
Über der schuldbelasteten Menschheit, die sich von Generation
zu Generation in Leiden verzehrt, wachsen, aus gesammelter innerer
Noth zu Glauben und Schauen gelangend, einsame mächtige Geister,
Heroen der Erkenntniss, empor. Sich sondernd aus der Menge,
aber stärkste Träger des allgemeinen Verlangens, gewinnen sie aus
dem inneren Licht begeisterter Intuition die Kraft, das lastende
Dunkel zu durchdringen und die Morgendämmerung eines neuen
Tages der Geschichte zu gewahren. Dem Schooss der „Mütter“
Entstammte, ein geistiges Titanengeschlecht, offenbaren sie, dem
Urwerden des Lebens nahe, das Geheimniss des den Menschen
schaffenden Gottesgeistes. Die gewaltige Vorstellung von einem
Helden-Seherthum, in welcher schon das Mittelalter, die Portale
der Kirchen schmückend, eines der erhabensten mythischen Ele-
mente christlichen Glaubens erkannt hatte, wird durch den grossen
Bildner, dessen Phantasie im Besonderen von Quercias Reliefs in
Siena und Bologna und von Signorellis Prophetengruppe in Or-
vieto leitende Eindrücke empfangen und schon bei der Konzeption
des Juliusdenkmales in dieses Bereich sich erhoben hatte, in höchster,
endgültiger Weise geformt. In diesem Vorwurf, wie in keinem
anderen, schien sich der Wunsch des christlichen Bildhauers nach
Gestaltung ewiger, dem religiösen Glauben angehöriger Typen all-
gemeinen Menschenthumes zu erfüllen. In ihnen durfte er hoffen,
den antiken Heroen ebenbürtige Erscheinungen zu schaffen.
Aus sieben Propheten und fünf Sibyllen setzt sich die Schaar
zusammen. (Über einige nicht zur Ausführung gelangte Studien
für Sibyllen siehe das Verz. 334, British Mus.; 418, Oxford; 473,
Louvre; 519, Venedig; auch Oxford 394 und Brit. Mus. 289.) Der
rein künstlerische Beweggrund, Abwechslung von männlichen und
weiblichen Figuren, sowohl der Längsrichtung als der Breite des
Gewölbes nach zu bringen, war hierfür entscheidend. Dass an die
Gewölbezwickel über der Eingangswand und der Altarwand nicht
ein Prophet und eine Sibylle, sondern zwei Propheten gebracht
wurden, dürfte im Wesentlichen aus gedanklichen Rücksichten zu
erklären sein. Was die Wahl der Propheten anbetrifft, so versteht
es sich von selbst, dass die vier grossen: Jesajas, Jeremias, Hesekiel
und Daniel dargestellt wurden. Die Aufnahme des Jonas und seine
Anbringung über dem Altar ergab sich aus seiner uralten Bedeutung
als Symbol von Christi Tod und Auferstehung, die des Joel und
Thode, Michelangelo III. 23
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6. Die Propheten und Sibyllen.
Über der schuldbelasteten Menschheit, die sich von Generation
zu Generation in Leiden verzehrt, wachsen, aus gesammelter innerer
Noth zu Glauben und Schauen gelangend, einsame mächtige Geister,
Heroen der Erkenntniss, empor. Sich sondernd aus der Menge,
aber stärkste Träger des allgemeinen Verlangens, gewinnen sie aus
dem inneren Licht begeisterter Intuition die Kraft, das lastende
Dunkel zu durchdringen und die Morgendämmerung eines neuen
Tages der Geschichte zu gewahren. Dem Schooss der „Mütter“
Entstammte, ein geistiges Titanengeschlecht, offenbaren sie, dem
Urwerden des Lebens nahe, das Geheimniss des den Menschen
schaffenden Gottesgeistes. Die gewaltige Vorstellung von einem
Helden-Seherthum, in welcher schon das Mittelalter, die Portale
der Kirchen schmückend, eines der erhabensten mythischen Ele-
mente christlichen Glaubens erkannt hatte, wird durch den grossen
Bildner, dessen Phantasie im Besonderen von Quercias Reliefs in
Siena und Bologna und von Signorellis Prophetengruppe in Or-
vieto leitende Eindrücke empfangen und schon bei der Konzeption
des Juliusdenkmales in dieses Bereich sich erhoben hatte, in höchster,
endgültiger Weise geformt. In diesem Vorwurf, wie in keinem
anderen, schien sich der Wunsch des christlichen Bildhauers nach
Gestaltung ewiger, dem religiösen Glauben angehöriger Typen all-
gemeinen Menschenthumes zu erfüllen. In ihnen durfte er hoffen,
den antiken Heroen ebenbürtige Erscheinungen zu schaffen.
Aus sieben Propheten und fünf Sibyllen setzt sich die Schaar
zusammen. (Über einige nicht zur Ausführung gelangte Studien
für Sibyllen siehe das Verz. 334, British Mus.; 418, Oxford; 473,
Louvre; 519, Venedig; auch Oxford 394 und Brit. Mus. 289.) Der
rein künstlerische Beweggrund, Abwechslung von männlichen und
weiblichen Figuren, sowohl der Längsrichtung als der Breite des
Gewölbes nach zu bringen, war hierfür entscheidend. Dass an die
Gewölbezwickel über der Eingangswand und der Altarwand nicht
ein Prophet und eine Sibylle, sondern zwei Propheten gebracht
wurden, dürfte im Wesentlichen aus gedanklichen Rücksichten zu
erklären sein. Was die Wahl der Propheten anbetrifft, so versteht
es sich von selbst, dass die vier grossen: Jesajas, Jeremias, Hesekiel
und Daniel dargestellt wurden. Die Aufnahme des Jonas und seine
Anbringung über dem Altar ergab sich aus seiner uralten Bedeutung
als Symbol von Christi Tod und Auferstehung, die des Joel und
Thode, Michelangelo III. 23