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Wahl und Charakteristik.
Zacharias vielleicht, wie Steinmann und Spahn dargelegt haben, aus
den in der Kapelle gefeierten Festen: Zacharias als Prophet des
Palmsonntags habe seinen Platz über der Thüre erhalten, durch
welche der Papst einzog, nachdem er die Palmen unter das Volk
vertheilt; Joel als Prophet des Pfingstfestes sei auf die Pfingstviglie
und die Messe des heiligen Geistes beim Scrutinium der Papstwahl
zu beziehen. Versuche, die Wahl der Sibyllen, unter denen auf-
fallender Weise die gerade hier in Rom vorauszusetzende Tiburtina
fehlt, zu erklären, haben zu keinem bestimmten Resultat geführt,
denn auch Emile Males Meinung, Michelangelo habe sich an Filippo
Barbieris 1481 erschienenes Büchlein: Discordantiae nonnullae
inter sanctum Hieronymum et Augustinum gehalten, ist nicht über-
zeugend. Ebensowenig haltbar erscheinen Behauptungen, wie die,
dass die Gesammtanordnung der Propheten und zwar in Zickzack-
folge vom historischen Standpunkte aus gewonnen wurde oder die
andere, dass Zusammenhänge sachlicher und formaler, sukzessiver
und simultaner Art zwischen einzelnen Paaren festzustellen seien.
Selbst symmetrische Bezüge zwischen den je fünf Figuren der
einen oder der anderen Längsseite sind nicht vorhanden. Michel-
angelo hat jede Gestalt isolirt gedacht, so wie es sich durch die
räumlichen Bedingungen der Decke und die gemalte Scheinarchi-
tektur von selbst ergab. Jener Rhythmus der Abwechslung von
Prophet und Sibylle, sowohl in der seitlichen Anordnung als dem
Gegenüber nach, und eine Abwechslung in den Motiven der Figuren
neben einander und einander gegenüber scheint das einzige obwal-
tende Gesetzmässige zu sein. Tritt schon in allem Diesen die Frei-
heit, welche sich der Künstler wahrte, zu Tage, so offenbart sie
sich in noch höherem Grade in der Art der Gestaltung. An die
künstlerische Tradition hat er sich so gut wie gar nicht gehalten,
nämlich nur in solchen Fällen (die jugendliche Bildung des Jonas,
des Daniel, der Delphica, der Erithraea), wo sie seiner eigenen An-
schauung entsprach. Aber mehr noch: selbst die Schriften der
Propheten und die litterarischen Angaben über die Sibyllen sind
nicht maassgebend für ihn geworden. Justis Bemühung, die Art
der Charakteristik und die Motive aus dem Bibeltexte zu deuten,
ist gescheitert, und Klaczko behält Recht, wenn er sagt: „es giebt
unter allen Umständen ein untrügliches Mittel, niemals zu einem
Verständniss dieser Gestalten zu gelangen: nämlich wenn man mit
den litterarischen Ideen und philosophischen Vorurtheilen, die
Wahl und Charakteristik.
Zacharias vielleicht, wie Steinmann und Spahn dargelegt haben, aus
den in der Kapelle gefeierten Festen: Zacharias als Prophet des
Palmsonntags habe seinen Platz über der Thüre erhalten, durch
welche der Papst einzog, nachdem er die Palmen unter das Volk
vertheilt; Joel als Prophet des Pfingstfestes sei auf die Pfingstviglie
und die Messe des heiligen Geistes beim Scrutinium der Papstwahl
zu beziehen. Versuche, die Wahl der Sibyllen, unter denen auf-
fallender Weise die gerade hier in Rom vorauszusetzende Tiburtina
fehlt, zu erklären, haben zu keinem bestimmten Resultat geführt,
denn auch Emile Males Meinung, Michelangelo habe sich an Filippo
Barbieris 1481 erschienenes Büchlein: Discordantiae nonnullae
inter sanctum Hieronymum et Augustinum gehalten, ist nicht über-
zeugend. Ebensowenig haltbar erscheinen Behauptungen, wie die,
dass die Gesammtanordnung der Propheten und zwar in Zickzack-
folge vom historischen Standpunkte aus gewonnen wurde oder die
andere, dass Zusammenhänge sachlicher und formaler, sukzessiver
und simultaner Art zwischen einzelnen Paaren festzustellen seien.
Selbst symmetrische Bezüge zwischen den je fünf Figuren der
einen oder der anderen Längsseite sind nicht vorhanden. Michel-
angelo hat jede Gestalt isolirt gedacht, so wie es sich durch die
räumlichen Bedingungen der Decke und die gemalte Scheinarchi-
tektur von selbst ergab. Jener Rhythmus der Abwechslung von
Prophet und Sibylle, sowohl in der seitlichen Anordnung als dem
Gegenüber nach, und eine Abwechslung in den Motiven der Figuren
neben einander und einander gegenüber scheint das einzige obwal-
tende Gesetzmässige zu sein. Tritt schon in allem Diesen die Frei-
heit, welche sich der Künstler wahrte, zu Tage, so offenbart sie
sich in noch höherem Grade in der Art der Gestaltung. An die
künstlerische Tradition hat er sich so gut wie gar nicht gehalten,
nämlich nur in solchen Fällen (die jugendliche Bildung des Jonas,
des Daniel, der Delphica, der Erithraea), wo sie seiner eigenen An-
schauung entsprach. Aber mehr noch: selbst die Schriften der
Propheten und die litterarischen Angaben über die Sibyllen sind
nicht maassgebend für ihn geworden. Justis Bemühung, die Art
der Charakteristik und die Motive aus dem Bibeltexte zu deuten,
ist gescheitert, und Klaczko behält Recht, wenn er sagt: „es giebt
unter allen Umständen ein untrügliches Mittel, niemals zu einem
Verständniss dieser Gestalten zu gelangen: nämlich wenn man mit
den litterarischen Ideen und philosophischen Vorurtheilen, die