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Nicht Historisches, sondern Ideelles.

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unserer Zeit geläufig sind, an sie herantritt. Man hüte sich z. B.
in dem Text der Bibel das Geheimniss dieses oder jenes Propheten,
dessen Charakterschilderung hier den Beschauer erstaunt, ja vielleicht
ein wenig äusser Fassung gebracht hat, suchen zu wollen: man
würde nur Gefahr laufen, die eigene Verwirrung noch zu steigern.“
Niemals, wenn nicht die Namen verzeichnet wären, würden wir,
äusser bei Jonas und Jeremias, mit Bestimmtheit sagen können,
welche Propheten und Sibyllen der Meister gemeint habe. Es ist,
wie bei Michelangelo gar nicht anders vorauszusetzen, die souverän
waltende künstlerische Phantasie, die, auf Bildung verschiedenartiger
Typen bedacht, entschied! Gewiss hat er die Schriften wohl gekannt,
denen er ja auch Einiges, aber freilich nur sehr Weniges (Jeremias,
Hesekiel, Jesajas, Jonas) für die Gestaltung der Vorgänge entnahm,
aber eine Schilderung der historischen Persönlichkeiten hat er
nicht beabsichtigt. Vielmehr nutzte er die Freiheit, welche die
Schriften seiner Einbildung liessen, in vollem Maasse aus. Bestimmte
Angaben über das Aussehen der Propheten waren in ihnen nicht
enthalten, und so verfuhr er mit ihnen, wie mit den Sibyllen, ob-
gleich für Deren Tracht und Alter gewisse Vorschriften gültig
geworden waren.
Nur insoweit es mit der künstlerischen Aufgabe, die er sich
stellen musste: nämlich der ideellen Erfindung hoher geistiger
Charaktere vereinbar war, wurde die litterarische und die künst-
lerische Tradition von ihm berücksichtigt.
In zwölf Gestalten war die Verheissung des Heiles zu ver-
anschaulichen. Mit blossen allgemeinen Variationen im Lebens-
alter und in der Tracht und mit Verzeichnen der verschiedenen ein-
zelnen Weissagungen auf Schriftbändern sich zu begnügen, wie es
die ältere Kunst gethan, verschmähte sein Geist. Nur durch Stei-
gerung der Charakteristik war der entschiedene, unmittelbar ver-
ständliche Eindruck zu gewinnen. Und dies wiederum konnte nur
durch eine schärfere, dem Individuellen sich mehr nähernde Aus-
prägung der Einzelerscheinung und durch eine Kennzeichnung des
geistigen Vorganges erreicht werden.
Die letztere bot eine nicht geringe Schwierigkeit dar. Pro-
phetenthum galt es zu schildern: eigentlich also nur einen und
denselben Vorgang des hellsichtigen Schauens, wie es Michelangelo
einmal, aber auch nur einmal, in der Delphica dargestellt hat, an
die daher ein Jeder auch zuerst denkt, will er sich ein Bild vom
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