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Die Cumaea.

gebogenen Nase, dem hartnäckigen Kinn äussert, macht diese Greisin
zu einer Schrecken erregenden Erscheinung. An herkulischer Kraft
selbst die mächtigsten Riesenbrüder überbietend, zeigt sie sich
nicht als Gottgeweihte, sondern, wie die schaudernde Phantasie sich
die Hexe von Endor vorstellt, als eine dämonisch wilder Natur
verbundene Höhlenbewohnerin, deren Lebenskraft keine Zeit etwas
anhaben kann. Michelangelo formte sie so, wie sie, „horrenda“,
Aeneas durch die Unterwelt führt. Jene Amalthea, der nach Ovid
zu ihrem furchtbaren Verhängniss der verschmähte Apollo tausend-
jähriges Leben verliehen und deren dem Tarquinius (Priscus oder
Superbus) überlassene Bücher im Tempel des Jupiter Capitolinus auf-
bewahrt wurden. (Eine verwandte Kopfstudie, Casa Buon., Verz.
Nr. 13.) Sie ist nicht in Lesen vertieft, wie ihre Altersgenossin, die
Persica, sondern ihr Blick haftet an einer wiedergefundenen Stelle,
die sie im Buch gesucht hat. Noch hält der eine Knabe das andere
Buch, das sie vorher befragte. Nun hat sie den ihr soeben gereichten
grossen Codex aufgeschlagen, um sich nochmals zu überzeugen,
und ist, vor sich hinmurmelnd, bemüht, den Spruch sich einzu-
prägen. Die gewaltig zupackenden Hände scheinen sich seiner zu
bemächtigen. Sie wird ihn auf die Weissagerolle verzeichnen, wie
deren eine bereits in dem für die Wanderschaft bestimmten Sacke
zu sehen ist. Oder ist der Spruch dort bereits aufgeschrieben und
prüft sie nur nochmals die Richtigkeit nach? Ohne Zweifel ist es
die der Prophetin immer beigegebene Verkündigung der 4. Ekloge
Vergils:
Ultima Cumaei venit jam carminis aetas,
Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.
Jam redit et virgo, redeunt Saturnia regna;
Jam nova progenies caelo demittitur alto.
Die kräftigen Knaben scheinen ihre Worte zu vernehmen. Der
vordere schaut nicht in das Buch, sondern nach unten vor sich
hin, wie in Träumerei verloren; auch der andere sinnt im Lauschen;
blickt er auf das Buch hinab, so geschieht dies, ohne dass er
etwas Bestimmtes wahrnähme.
Letztes Sichvergewissern der Wahrheit, so dürfte
man den geistigen Vorgang kennzeichnen.
 
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