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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,1): Der Künstler und seine Werke: Abth. 1 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47068#0432
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Das Übermaass in den Bewegungen.

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künstlerischer Drang mitwirkt. Wie wohl und verhältnissmässig in
die Nische einbezogen erscheinen Zacharias, die Delphica, Joel,
auch noch die Erithraea und Jesajas! Für Daniel, die Cumaea,
die Libica, Jeremias und Jonas wird das Throngehäuse viel zu eng,
und dieses Missverhältniss bringt den Eindruck der Kolossalität
der Figuren hervor. Das Gleiche gilt von den Schöpfungsszenen:
wie eng ist der Rahmen für die Gestalten, wie eng auch für die
Sklaven das ihnen an der Ostseite durch die Architektur zugewiesene
Bereich!
Absolut genommen aber schwellen die Körperformen in mäch-
tiger, entwickelter Muskulatur an. Man vergleiche die in wahr-
haft griechischem Ebenmaass gehaltenen Epheben über der Delphica
und dem Joel mit den übervollen und -starken Jünglingen über
dem Jeremias oder der Libica, den Jesajas mit dem Daniel, die
Delphica mit der Libica! Welche Gefahr einer Aufhebung des
harmonischen Verhältnisses zwischen Leib und Kopf, da letzterer
der Massigkeit des Körpers gegenüber zu kurz kam, hierbei eintrat,
zeigt nicht nur die Cumaea, ist es bei ihr auch am auffallendsten.
Dass auch die Bekleidung diese Wandlungen durchmacht, ist
begreiflich. An Stelle der feineren Gliederungen treten massigere
Drapirungen und Falten.
Das Übermässige zeigt sich zweitens in den Bewegungen
der gewaltigen Leiber. Welch’ eine Fülle, ja Überfülle der
Muskelaktion drängt sich, verglichen mit den im Westen noch gehal-
teneren Erscheinungen bei den Figuren, am stärksten bei den Ath-
leten, der östlichen Parthie dem Auge auf. Und welch’ komplizirte
Biegungen, Wendungen und Drehungen der einzelnen Körpertheile,
welche kühne, ja gewaltsame Überschneidungen, welche Divergenzen
und Gegensätzlichkeiten der Axen, sich steigernd bis zu den ge-
zwungenen, gequälten Stellungen des Jünglings rechts über dem
Jeremias und jenes rechts über der Libica! Als Begleiterschei-
nungen kommen die bewegten Gewandstücke, die häufig vom Winde
aufgebläht sind, die bewegten, in Locken sich rollenden, abstreben-
den, flatternden Flaare hinzu.
Die überwältigende Erkenntniss der grandiosen Meisterschaft,
mit welcher die physischen Lebenskräfte in Gestalten, wie dem er-
schaffenden Gottvater, den Flüchtigen der Sündfluth, dem ge-
kreuzigten Haman, den im Knäul sich ballenden Verzweifelten der
„Ehernen Schlange“, dem Ezechiel, Jeremias, Daniel und Jonas, der
 
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