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4°4

Das Übermaass in der Körperbildung.

darstellen. Erst damit ist die früher noch immer nicht vollkommen
erreichte Raumausfüllung gewonnen. Dem Stile nach gehörten auch
die beiden zerstörten Bilder an der Altarwand an dieses Ende der
Entwicklung. Ja, sie zeigen noch etwas Anderes, dies nämlich,
dass die Komposition der beiden Lünetten in Rücksicht auf den sie
zusammenfassenden Blick des Betrachters gebildet ward. Hier ist
nicht Symmetrie zwischen den Hauptfiguren der einzelnen Lünette,
sondern zwischen den beiden äussersten Figuren links und rechts
und den zwei inneren auf den beiden Bildern.
Welche Rolle innerhalb dieser die beiden Lünettenhälften ver-
bindenden Symmetrie für die Gestaltung der einzelnen Figur oder
Gruppe die Dreiecksform spielt, mit welcher Klarheit auch hier die
Gliederung durch Vertikalen, Horizontalen und Diagonalen be-
stimmt wird, kann keinem aufmerksamen Betrachter entgehen.
Plastische Gesetzmässigkeit im Reliefstil und plastische Gesetz-
mässigkeit im linearen Gefüge des Flächenbildes — sind diese
Normen kennzeichnend für den gesammten Gemäldezyklus der
Sixtinischen Decke, heisst das nicht so viel, als dass der antike
Stil hier zu neuem Leben erweckt ist? Gewiss, soweit es sich um
die Grundgesetze, nicht aber, insofern es sich um die Erscheinungen
handelt. Jene Gesetze sind einem anderen Geiste und einer anderen
Seele dienstbar gemacht. Und zwar ist es, da das Juliusdenkmal
ein blosser Plan blieb und die erhaltenen Statuen: der Moses den
Propheten, die Sklaven den Athleten gesellt werden müssen, gerade
hier in diesen Werken, dass wir in schneller Entwicklung den Stil
der Michelangeloschen Kunst sich entscheiden sehen!
Entscheiden in dem Sinne, dass eine dritte, von
der Antike gewahrte Gesetzmässigkeit, die der Pro-
portionalität, durchbrochen wird, dass an die Stelle
des Maasses ein Übermässiges tritt.
Dieses zeigt sich zunächst in der Körperbildung, und zwar
sowohl relativ als absolut. Relativ, indem im Verhältniss zu dem
umgebenden Rahmen die Grösse der Figuren immer mehr wächst,
und zwar ebensowohl in den Historien, wie in den Propheten und
Athleten. War hierfür zunächst auch wohl, wie wir annehmen
mussten, ein Kompositionsgedanke, der den Standpunkt des Be-
schauers an der Eingangsseite der Kapelle berücksichtigte, maass-
gebend, so lässt sich gewiss nicht verkennen, dass zugleich ein
 
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