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Das Übermaass in den Gesichtstypen.

Cumaea und der Libica, den Athleten — um nur Hauptbeispiele
zu nennen — geformt sind, vermag über das häufig beängstigend
und beklemmend Erregende der Eindrücke, die wir empfangen,
nicht zu täuschen. In unserem Empfinden angespannt bis zum
Äussersten, bis zum Verlangen, jene Spannungen der Bewegung
sich lösen, die Bewegungen sich verändern zu sehen, dürfen wir
sagen: hier gelangt die Kunst bis an die Gränze des schönen
Scheines, ja strebt über diese hinaus in ein anderes Bereich, selbst
wenn die Gränzen so weit gezogen werden, wie es der Schönheit
des Erhabenen entspricht.
Und wie weit, so stellt sich die dritte Frage bei dieser Wahr-
nehmung des Übermässigen ein, entspricht den Anforderungen der
Schönheit, als des Ebenmaasses, die Bildung der Gesichts-
typen? Dass Michelangelo stark durch das antike Ideal beeinflusst
war und dass er sich ihm in einzelnen Gestalten, namentlich den Jüng-
lingen und jungen Frauen, sehr näherte, wird Keinem, der den Ver-
gleich anstellt, verborgen bleiben. In Köpfen, wie denen der drei
jugendlichen Sibyllen, des Adam in der Erschaffung, der Athleten
links über Jeremias, links über der Persica, links und rechts von
der Delphica, des Jünglings in der Lünette Eleazar, der Frau in der
Lünette Ezechias ist eine der Griechischen nahe verwandte Pro-
portionalität erreicht. Im Allgemeinen aber wird diese Harmonie
wesentlich modifizirt, und zwar auf zweierlei Weise: durch die starke
Kennzeichnung psychischen Ausdruckes und durch individualisirende
Charakteristik.
Bringt die Verdeutlichung leidenschaftlichen Innenlebens nicht
nur momentane Bewegungen der Muskulatur mit sich, sondern
gleichsam dauernd eingeprägte Akzentuirungen der Beweglichkeit
jener Formen: Auge, Mund, Nasenflügel, in denen die verborgenen
inneren Vorgänge zur Erscheinung werden, so bestimmt das Ver-
langen nach Charakteristik viel weiter gehende Abweichungen von
der Schönheitsnorm des Typus. Es offenbart sich unverkennbar
selbst in der Brüderschaar der gleichaltrigen Jünglinge, für deren
Einzelcharakterisirung neben Verschiedenheiten der Formen und
Züge besonders das verschieden gebildete Haar verwerthet wird.
Zu Bildungen auffallend individueller Art aber hat es in den Pro-
pheten und Sibyllen einerseits, in den Familien der Lünetten andrer-
seits geführt. Von einem so auf das Typische gerichteten Künstler-
geiste, der alle Bildnisskunst verschmähte, Gestalten geschaffen zu
 
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