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Der Zwiespalt zwischen Seele und Leib.

vielleicht das Vollkommenste, was er hervorgebracht hat, aber
gerade in ihnen kommt zugleich das Problem seiner Kunst zur
deutlichsten Fasslichkeit. Die göttliche Kraft und Freiheit eines
höchsten Menschenthumes, in dem Inneres und Äusseres harmonisch
ausgeglichen ist, offenbarte sich in den Götter- und Heroenstatuen
der Griechen als Schönheit. Das geistige Wesen, die Macht der
Erkenntniss, der auf den Intellekt gerichtete Wille hingegen, die ein-
seitige Herrschaft des Inneren ist es, welche den seherischen Gott-
suchern den Charakter des Heroischen verleiht: der Leib hat nur
insofern eine Bedeutung, als sich in ihm das Geistige verdeutlicht.
Gilt es die Charakteristik des Denkens zu geben, so spielt die
Leiblichkeit keine Rolle, vielmehr verlangt eine solche Charakte-
ristik, dass eine Aufhebung, Aufzehrung gleichsam des Körpers
durch den Geist veranschaulicht werde. Nun kann aber die Macht
der Persönlichkeit von dem Plastiker im Wesentlichen nur durch
die Kraft und Fülle der Körpererscheinung zum unmittelbaren Ver-
ständniss gebracht werden. Hier liegt der Widerspruch. Im Moses
überwand Michelangelo diesen, indem er den Mann der That, der
zugreifenden Herrschergewalt darstellte.
Wie fand er sich mit der Aufgabe, die ihm in Propheten und
Sibyllen gestellt war, ab? Er schuf, seinem plastischen Genius ge-
horchend, ein mythisches Geschlecht denkender Titanen; die tief-
begründete, volksthiimliche Sage vom ,,dummen“ Riesen, gewaltsam
unterdrückt, musste einer solchen von Giganten, die der Geist er-
leuchtet, Platz machen. Wir glauben an sie, weil Michelangelo sie
schuf und der Phantasie der Menschheit für alle kommende Zeit
einprägte, aber welcher unbefangen an sie Herantretende kann
sich dem Eindruck der Gewaltsamkeit dieses Schöpfungsaktes ent-
ziehen?
Indem der Künstler, der die Berechtigung hierzu dem Urwesen-
haften des Raum und Zeit durchbrechenden Seherthumes entnahm,
Grösse und Werth leiblicher Formen zum Symbol seelischer Er-
habenheit zu machen sich gedrungen sah, gelangte er mit innerer
Nothwendigkeit dazu, das ungeheuere Erleben dieser Persönlich-
keiten in kolossalische Körper zu versetzen. Und je mehr er dies
that, desto stärker musste der Zwiespalt zwischen Seele
und Leib ersichtlich werden.
Körper, die zu unwiderstehlicher physischer That, zu Kampf
und Sieg bestimmt erscheinen, sind, schwer lastend, zur Unthätigkeit
 
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