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Pietro Aretinos Schmähbrief.
der Komposition des Weltalls, der Hölle und des Paradieses und
bei der Schilderung der Glorie, der Ehrenbezeugungen und der
Schrecken von meinem Brief, den dieses Jahrhundert liest, von
seiner Belehrung, seinem Beispiel und seiner Weisheit berathen
lassen, so würden, dies erkühne ich mich zu behaupten, nicht nur
die Natur und all der günstige Sterneneinfluss es nicht bereuen,
Euch jenen leuchtenden Intellekt gegeben zu haben, der die
Menschen heute bewegt, Euch zu einem Wunderbilde höchster
Tugend zu machen, nein, auch die Vorsehung, die Alles sieht,
würde auch für ein solches Werk Sorge tragen, so lange die Ordnung
im Sphärenwalten sich erhält. —
Euer Diener, der Aretiner.“
„Jetzt, da ich meine Wuth über die Grausamkeit, mit der Ihr
meine Ergebenheit behandelt, ausgelassen und es mich dünkt, ich
habe Euch gezeigt, dass, wenn Ihr göttlich seid, ich auch nicht
von Wasser bin, zerfetzt dies Schreiben, denn auch ich habe es in
Stücke zerrissen, und entschliesst Euch nun, denn ich bin Einer,
dessen Briefe selbst Könige und Kaiser beantworten.“ (Gaye II,
S. 332. S. ob. Bd. I, 93 f.)
An Enea Vico, der das Gemälde stach, schrieb Pietro im
Januar I 546:
„So befleissigt Euch nun der Vollendung eines so heiligen und
lobenswürdigen Unternehmens; denn der Skandal, den die Zügel-
losigkeit der Kunst Michelangelos bei den Lutheranern wegen des
mangelnden Respektes vor dem natürlichen Schamgefühl, in den
Figuren der Hölle wie des Himmels zu Tage tretend, erregen
könnte, nimmt Euch nichts von der Ehre, die Ihr verdient, indem
Ihr die Ursache seid, dass Jeder sich an dem Werke freuen könne.“
(Lettere, Paris II, S. 328.)
Was der hämische Aretiner in jenem, alles denkbare Gift aus-
spritzenden Schreiben boshaft formulirt, musste bedenklich wirken,
weil es eine Wahrheit enthielt: der Künstler hatte in diesem Werk
zwar nicht seine Kunst höher als den Glauben geachtet — war er
doch ein viel tiefer überzeugter Christ, als jene Sachwalter des
Christenthumes — , aber sie zur Siegerin über die konventionelle,
durch die Tradition geheiligte Anschauung gemacht, welche sich
Pietro Aretinos Schmähbrief.
der Komposition des Weltalls, der Hölle und des Paradieses und
bei der Schilderung der Glorie, der Ehrenbezeugungen und der
Schrecken von meinem Brief, den dieses Jahrhundert liest, von
seiner Belehrung, seinem Beispiel und seiner Weisheit berathen
lassen, so würden, dies erkühne ich mich zu behaupten, nicht nur
die Natur und all der günstige Sterneneinfluss es nicht bereuen,
Euch jenen leuchtenden Intellekt gegeben zu haben, der die
Menschen heute bewegt, Euch zu einem Wunderbilde höchster
Tugend zu machen, nein, auch die Vorsehung, die Alles sieht,
würde auch für ein solches Werk Sorge tragen, so lange die Ordnung
im Sphärenwalten sich erhält. —
Euer Diener, der Aretiner.“
„Jetzt, da ich meine Wuth über die Grausamkeit, mit der Ihr
meine Ergebenheit behandelt, ausgelassen und es mich dünkt, ich
habe Euch gezeigt, dass, wenn Ihr göttlich seid, ich auch nicht
von Wasser bin, zerfetzt dies Schreiben, denn auch ich habe es in
Stücke zerrissen, und entschliesst Euch nun, denn ich bin Einer,
dessen Briefe selbst Könige und Kaiser beantworten.“ (Gaye II,
S. 332. S. ob. Bd. I, 93 f.)
An Enea Vico, der das Gemälde stach, schrieb Pietro im
Januar I 546:
„So befleissigt Euch nun der Vollendung eines so heiligen und
lobenswürdigen Unternehmens; denn der Skandal, den die Zügel-
losigkeit der Kunst Michelangelos bei den Lutheranern wegen des
mangelnden Respektes vor dem natürlichen Schamgefühl, in den
Figuren der Hölle wie des Himmels zu Tage tretend, erregen
könnte, nimmt Euch nichts von der Ehre, die Ihr verdient, indem
Ihr die Ursache seid, dass Jeder sich an dem Werke freuen könne.“
(Lettere, Paris II, S. 328.)
Was der hämische Aretiner in jenem, alles denkbare Gift aus-
spritzenden Schreiben boshaft formulirt, musste bedenklich wirken,
weil es eine Wahrheit enthielt: der Künstler hatte in diesem Werk
zwar nicht seine Kunst höher als den Glauben geachtet — war er
doch ein viel tiefer überzeugter Christ, als jene Sachwalter des
Christenthumes — , aber sie zur Siegerin über die konventionelle,
durch die Tradition geheiligte Anschauung gemacht, welche sich