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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,2): Der Künstler und seine Werke: Abth. 2 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47069#0209
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Des Kleisters unerbittliche Wahrhaftigkeit.

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sehen Züge von Liebe, Dankbarkeit und Sympathie unterdrückt,
alle Stimmung von Heiligkeit und Seligkeit in den himmlischen
Heerschaarcn getilgt, die Heiligen, Seligen und Verdammten nicht
kenntlich unterschieden zu haben. „Die Bildungen der oberen
Gruppe,“ sagt Burckhardt, „sind nicht idealer, ihre Bewegungen
nicht edler als die unten. Umsonst sucht man nach jener ruhigen
Glorie von Engeln, Aposteln und Heiligen, die in anderen Bildern
dieses Inhalts schon durch ihr blosses symmetrisches Dasein die
Hauptgestalt, den Richter, so heben, vollends aber bei Orcagna und
Fiesoie mit ihrem wunderbaren Seelenausdruck einen geistigen
Nimbus um ihn ausmachen. Nackte Gestalten, wie Michelangelo
sie wollte, können eine solche Stimmung gar nicht als Träger ver-
dienen ; sie verlangen Gesten, Bewegung und eine ganz andere Ab-
stufung von Motiven. Auf die letzteren hatte es der Meister eigent-
lich abgesehen.“ Man fand „Nichtigkeit des moralischen und Ge-
fühlseffektes“, eine blosse Zurschaustellung virtuosen Könnens.
Die allgemeine Erwiderung, die auf diesen Tadel zu geben wäre,
ist keine andere, als die schon hervorgehobene Thatsache, dass der
Künstler den Kern der Vorstellung vom Jüngsten Tage enthüllt hat.
Galt unsere frühere Betrachtung deren mythischem Charakter, so
erweist eine weitere, auf den Gehalt gerichtete, die schreckens-
volle Tragik des Vorwurfes! Denn der dramatische Vor-
gang liegt in dem Verdammen , nicht in dem Berufen. Schon die
Schilderungen der Bibel, nicht allein des Alten, sondern auch des
Neuen Testamentes, legen den Akzent auf die furchtbare Ver-
urteilung der Sünder: „der Jüngste Tag ist der Tag des Zornes.“
Und von dem Augenblicke an, da die Kunst den regungslosen,
hieratisch symbolischen Christus des frühen Mittelalters in einen
handelnden umbildete, wurde sie zu der Entscheidung gedrängt,
als Hauptmotiv die Verurtheilung und Zurückweisung der Frevler
zu bringen. Nun ist es sehr wichtig zu beachten, wie die Maler
hierdurch sogleich in ein Dilemma geriethen. Jesus, dessen tradi-
tionelles Bildniss den Typus der Sanftheit und das Maass milder
Bewegungen an sich trug, sollte als unerbittlicher Richter in zor-
niger Erregung dargestellt werden! Noch Giotto kann sich hierzu
nicht entschliessen, wie denn höchst bezeichnender Weise auch
die nordische Kunst selbst im XV. Jahrhundert an dem alterthüm-
lichen Ideal eines leidenschaftlosen, in göttlicher Ruhe über dem
Wirrsal thronenden Christus festhielt; er lässt den Erlöser den Blick
 
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