Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,2): Der Künstler und seine Werke: Abth. 2 — Berlin: Grote, 1912

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.47069#0210
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die Enthüllung des Kernes der Vorstellung.

607
auf die Seligen wenden und nur die linke Hand abwehrend nach
den Verdammten richten. Und diese sind in so kleinen Verhält-
nissen in der Hölle dargestellt, dass nicht an ihnen, sondern an
den Erlösten der Blick haftet. Das versöhnende Element siegt,
aber auf Kosten einer überzeugenden Wirkung des Aktes. Hierbei
konnte es sein Bewenden nicht haben : der leidenschaftliche Schöpfer
des Freskos in Pisa entscheidet sich kühn für die Verdeutlichung
des unbarmherzigen Charakters des Vorganges. Christus wird zum
Vernichter. Selbst Fra Giovanni Angelico, mit so zartem Pinsel
er die paradiesischen Wonnen schildert, kann sich dem künstleri-
schen Gebot des Vorwurfes nicht mehr entziehen. Auch sein
Richter, in den Bildern in Berlin, in der Gallerie Corsini zu Rom
und in Orvieto, so sanftmüthig er gebildet ist, wendet sich gegen
die Sünder, und die erhobene Rechte, mag ihre Geste auch die
altherkömmliche des Wundenweisens sein, erweckt den Eindruck
des Zurückscheuchens, ja des Dräuenden. An einem solchen Kom-
promiss lässt sich auch der spätere Mönch von S. Marco, Fra Bar-
tolommeo, genügen. Wie aber hätte dies der Künstler thun können,
der, im Vollbesitze der Darstellungskraft, den dramatischen Gehalt
des Stoffes ganz erfasste und ihm gerecht zu werden von seinem
künstlerischen Genie getrieben ward? Er musste, wie in der Dar-
stellung des Nackten, so auch in der uneingeschränkten Vergegen-
wärtigung der Grauen erregenden Furchtbarkeit des Vorganges
der höchsten Pflicht künstlerischer Wahrhaftigkeit genügen. Sein
Werk sagt die Wahrheit. Was die ältere dogmatische Kunst,
symbolisch verfahrend, verheimlicht hatte, spricht er offen aus:
das Jüngste Gericht ist eine gewaltige, aber entsetz-
liche Vorstellung, gegen welche ein edles Gefühl
schaudernd sich wehrt. Was sagt uns alle Seligkeit Aus-
erwählter, wenn es ewige Höllenqualen giebt! Dann wäre das
Jenseits nur ein verewigtes irdisches Dasein. Dann wäre Gott
nicht die Liebe. So tief begründet in unserem irdischen be-
fangenen Erleben von Gut und Böse, in unserer eine Antwort
suchenden und nie findenden Frage nach der Gerechtigkeit und
nach der Freiheit des Willens dieser Mythus ist, so dringend seiner
der Erzieher der Menschheit bedarf — lasst ihn Euch von dem
grossen Meister zeigen und erkennet, welcher Art er ist! Erschreckt
nicht vor des Meisters Werk, sondern vor dem Mythus selbst! Ge-
wahrt, wie unvereinbar mit der neutestamentarischen
 
Annotationen