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Thode, Henry; Thode, Henry [Hrsg.]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,2): Der Künstler und seine Werke: Abth. 2 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47069#0211
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6ö8

Rechtfertigung des Werkes.

Gewissheit von einem Christus, der inLiebe die Welt
mit dem himmlischen Vater versöhnt, das alttesta-
mentarische Amt der Rache, das ihm hier zugewiesen
ist, erscheint!
So betrachtet, erklären sich alle Eigenthümlichkeiten der Kom-
position, als tief begründet in dem Vorwurf selbst. Sie sind nicht
„Träume und Chimären“, wie sie Einer im XVI. Jahrhundert be-
zeichnet hat — Träume und Chimären waren die älteren Darstel-
lungen: hier ist die Realität. Wir sahen früher, wie alle Motive
der Bibel entnommen sind. Die Wiedergabe einer blossen Gerichts-
sitzung sagte dem Dramatiker nichts: der Rechtspruch musste als
Handlung verdeutlicht werden. Wie Christus, mussten auch die
Heiligen, die „mitrichten“ (Matth. 19, 28; I. Kor. 6, 2) zu Han-
delnden, zu Mitverdammenden werden. Der Vorwurf, dass Michel-
angelo die Heiligen nicht in verklärter Ruhe, sondern als Ankläger
darstellt, ist unzutreffend. Heisst es nicht, dass selbst die Leute
von Ninive, dass die Königin von Saba am Jüngsten Tage auftreten
werden, dieses Geschlecht zu verdammen (Matth. 12, 41. 42), dass
„Einer ist, der Euch verklagt, Moses“ (Joh. 5, 45)? Und im Be-
sondere bezüglich der Märtyrer: „auf dass über Euch komme alles
das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden.“ (Matth. 23, 35.)
Wie die Wunden des Erlösers und die Marterwerkzeuge, die sie
veranlasst, so werden auch die Qualen der gemarterten Heiligen
zu furchtbaren Zeugnissen der Schuld. Und wie könnten alle die
anderen in das Paradies Aufgenommenen ruhig bleiben, wenn jenes
Richterwort erklingt, wie müssten nicht auch sie im Innersten er-
beben ! Nur in wenigen ferneren Gestalten, in jenen Gruppen sich
Umarmender und Begrüssender, nur in dem eifrigen, alle Betrach-
tung ausschliessenden Sehnsuchtsstreben der Befreiten nach oben,
in Marias sie empfangendem Blick, konnte die Seligkeit des Para-
dieses angedeutet werden.
Und endlich: Christus selbst! Wie tief und wahr empfunden
ist es, dass seine Erscheinung nicht die des göttlichen, das Evan-
gelium der Liebe predigenden und bethätigenden Menschenbruders
und alle Leiden auf sich nehmenden Erlösers sein kann, dass dieser
zu ewigen Qualen verfluchende Führer erbarmungsloser Heerschaaren
ein Anderer ist und von anderer Gestalt. „Nicht Christus“, hat man
gesagt — mit Recht: der verdammende Richter am Ende der Tage
ist nicht Christus, sondern ein unchristlicher Gott. Die Kunst
 
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