Charakteristik Sebastianos.
Vorstellung, die er sich in dem Zeitraum zwischen den Sixtinischen
Deckenbildern und dem Jüngsten Gericht von dem Menschensohne
Gottes gemacht. Aber freilich ist es ungemein bezeichnend, dass
er, der offenbar auch jene Statue nur mit innerem Widerstreben und
ohne künstlerische Neigung ausführte, eben nur für einen Anderen
und nur auf Dessen Antrieb mit dem Vorwurfe sich beschäftigte,
nicht aus eigenem innerem Bedürfniss. Dieser führte ihn nicht
in das freie Bereich des Allgemein-Menschlichen, sondern bannte
ihn in Gränzen, die er, ohne den Glaubensthatsachen und -tradi-
tionen zu nahe zu treten, nicht überschreiten konnte. Die Freiheit
gewann er erst in dem Augenblicke, da er Christus als rein mythische
Gestalt erfassen und darstellen durfte ■— nicht als Lehrer, nicht als
Wunderthäter, nicht als Dulder, sondern als Gott, der über die
Welt Gericht hält.
Gelegentlich des Werkes an der Altarwand der Sixtina sollte
es zum Bruch zwischen Michelangelo und Sebastiano kommen.
Das hat für den Letzteren so viel bedeutet, als dass er von jener
Zeit an, der Unterstützung verlustig, Gemälde historischer Art nicht
mehr ausgeführt hat. Nur durch Michelangelo ward er zum Maler
dramatischer Vorgänge. Die von uns gewonnene Erkenntniss ver-
ändert das Bild von seiner Kunst und Begabung wesentlich, und
Mancher wird sich, traditioneller Meinung zu Liebe, gegen sie
sträuben. Aber sie ist, — noch einmal sei dies gesagt, ■— auf
sichere unwiderlegliche Zeugnisse gegründet. Für sechs der be-
sprochenen Werke ist die Benutzung Michelangeloscher Entwürfe
beglaubigt. Auch für die vier weiteren sie zu behaupten, sind wir
voll berechtigt, nicht nur, weil sich in ihnen unserem Blick, der
durch jene anderen erhellt ist, des Meisters Geist und Erfindung
verräth, sondern auch, weil uns die Briefe darüber belehren, dass
Dieser dem Venezianer nicht ausnahmsweise, sondern in der Regel
Skizzen zur Verfügung stellte. Vasaris Urtheil, dass Sebastianos
Bedeutung in der Porträtmalerei, auf welche er die ihm empfangene
Lehre des tektonischen Gesetzes anwandte, lag, erweist sich als
zutreffend. In Erfindung und Komposition war er schwach. Sinkt
er von der Höhe der Stellung, die man ihm zuweisen musste, solange
man ihn für den ideellen Schöpfer der Auferweckung Lazari, der
Geisselung, der Pieta, des Christus im Limbus hielt, so bleibt ihm
doch der Ruhm, dass er mit einem offenen Sinn für seines Gön-
ners grosse Formensprache dieser sein venezianisches koloristi-
Thode, Michelangelo III. 2(5
Vorstellung, die er sich in dem Zeitraum zwischen den Sixtinischen
Deckenbildern und dem Jüngsten Gericht von dem Menschensohne
Gottes gemacht. Aber freilich ist es ungemein bezeichnend, dass
er, der offenbar auch jene Statue nur mit innerem Widerstreben und
ohne künstlerische Neigung ausführte, eben nur für einen Anderen
und nur auf Dessen Antrieb mit dem Vorwurfe sich beschäftigte,
nicht aus eigenem innerem Bedürfniss. Dieser führte ihn nicht
in das freie Bereich des Allgemein-Menschlichen, sondern bannte
ihn in Gränzen, die er, ohne den Glaubensthatsachen und -tradi-
tionen zu nahe zu treten, nicht überschreiten konnte. Die Freiheit
gewann er erst in dem Augenblicke, da er Christus als rein mythische
Gestalt erfassen und darstellen durfte ■— nicht als Lehrer, nicht als
Wunderthäter, nicht als Dulder, sondern als Gott, der über die
Welt Gericht hält.
Gelegentlich des Werkes an der Altarwand der Sixtina sollte
es zum Bruch zwischen Michelangelo und Sebastiano kommen.
Das hat für den Letzteren so viel bedeutet, als dass er von jener
Zeit an, der Unterstützung verlustig, Gemälde historischer Art nicht
mehr ausgeführt hat. Nur durch Michelangelo ward er zum Maler
dramatischer Vorgänge. Die von uns gewonnene Erkenntniss ver-
ändert das Bild von seiner Kunst und Begabung wesentlich, und
Mancher wird sich, traditioneller Meinung zu Liebe, gegen sie
sträuben. Aber sie ist, — noch einmal sei dies gesagt, ■— auf
sichere unwiderlegliche Zeugnisse gegründet. Für sechs der be-
sprochenen Werke ist die Benutzung Michelangeloscher Entwürfe
beglaubigt. Auch für die vier weiteren sie zu behaupten, sind wir
voll berechtigt, nicht nur, weil sich in ihnen unserem Blick, der
durch jene anderen erhellt ist, des Meisters Geist und Erfindung
verräth, sondern auch, weil uns die Briefe darüber belehren, dass
Dieser dem Venezianer nicht ausnahmsweise, sondern in der Regel
Skizzen zur Verfügung stellte. Vasaris Urtheil, dass Sebastianos
Bedeutung in der Porträtmalerei, auf welche er die ihm empfangene
Lehre des tektonischen Gesetzes anwandte, lag, erweist sich als
zutreffend. In Erfindung und Komposition war er schwach. Sinkt
er von der Höhe der Stellung, die man ihm zuweisen musste, solange
man ihn für den ideellen Schöpfer der Auferweckung Lazari, der
Geisselung, der Pieta, des Christus im Limbus hielt, so bleibt ihm
doch der Ruhm, dass er mit einem offenen Sinn für seines Gön-
ners grosse Formensprache dieser sein venezianisches koloristi-
Thode, Michelangelo III. 2(5