Der Vorwurf einseitiger Schreckensdarstellung.
605
mit dem Heidnischen in dem Dogma vom Jüngsten Gericht abfand.
Es konnte nicht ausbleiben, dass bis auf den heutigen Tag das
christliche Gefühl in dieser Darstellung des Nackten, das trotz der
Übermalungen doch den Eindruck bestimmt, etwas Unchristliches
empfand. Jedoch — es sei wiederholt — die Schuld liegt nicht an
Michelangelo, sondern an jenen volksthümlich anschaulichen Vor-
stellungen, die freilich in den Evangelien Jesu selbst in den Mund
gelegt werden, aber zugleich doch durch ihn selbst — „in der Auf-
erstehung werden sie weder freien noch sich freien lassen, sondern
sie sind gleichwie die Engel Gottes im Himmel“ (Matth. 22, 30), —
und durch Paulus auf ihren geistigen Gehalt hin gedeutet wurden.
,,Es wird gesäet ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein
geistlicher Leib.“ „Und wie wir getragen haben das Bild des
irdischen : also werden wir auch tragen das Bild des himmlischen.“
(1. Kor. 15, 44- 49-)
Der wegen des Nackten dem Künstler gemachte Vorwurf blieb
aber nicht der einzige, der ihn des Unchristlichen zieh. In den 1564
veröffentlichten ,,due dialoghi“ des Giovanni Andrea Gilio von Fabri-
ano tadelt der Kanonikus Ruggiero Coradini die der Andacht und
Ehrfurcht widersprechende Verletzung des Theologisch-
Historischen. Die zum Theil sehr kindisch vertheidigten Be- r
denken betreffen die Bartlosigkeit Christi, die Furchtsamkeit der Ma-
donna, die, als willenseinig mit ihrem Sohne, doch den gleichen Ab-
scheu vor den Verdammten zeigen müsse, die Flügellosigkeit der
Engel und die fehlerhafte Charakteristik der Teufel, die keine
Schwänze und Hörner hätten, die Verschiedenartigkeit im Zustande
der Auferstehenden, der Flug der Auserwählten gen oben, die An-
bringung des Charon. Ja, er will, obgleich er aus der Bibel direkt
widerlegt wird, selbst die beiden Bücher nicht gelten lassen, da nur
das Gewissen am Jüngsten Gericht entschuldige oder verklage.
Auch findet ein Anderer die gewaltsamen Bewegungen der Märtyrer
unschicklich, eine Meinung, die sich mit der Lomazzos berührt,
welcher in den robusten Heiligen nicht das Decorum gewahrt sieht.
Die Einwände jenes ungebildeten Mannes, der zu den von Lodo-
vico Domenichi als „Ignoranten und Betbrüder“ verspotteten Kritikern
gehört, bedürfen keiner Widerlegung, aber sie verdienen es doch
erwähnt zu werden, weil Einiges, was er vorbringt, spätere Urtheile
gleichsam einleitet. Diese, oft wiederholt, beschuldigen Michelangelo,
mit grausamer Einseitigkeit den Schrecken geschildert, alle seeli-
605
mit dem Heidnischen in dem Dogma vom Jüngsten Gericht abfand.
Es konnte nicht ausbleiben, dass bis auf den heutigen Tag das
christliche Gefühl in dieser Darstellung des Nackten, das trotz der
Übermalungen doch den Eindruck bestimmt, etwas Unchristliches
empfand. Jedoch — es sei wiederholt — die Schuld liegt nicht an
Michelangelo, sondern an jenen volksthümlich anschaulichen Vor-
stellungen, die freilich in den Evangelien Jesu selbst in den Mund
gelegt werden, aber zugleich doch durch ihn selbst — „in der Auf-
erstehung werden sie weder freien noch sich freien lassen, sondern
sie sind gleichwie die Engel Gottes im Himmel“ (Matth. 22, 30), —
und durch Paulus auf ihren geistigen Gehalt hin gedeutet wurden.
,,Es wird gesäet ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein
geistlicher Leib.“ „Und wie wir getragen haben das Bild des
irdischen : also werden wir auch tragen das Bild des himmlischen.“
(1. Kor. 15, 44- 49-)
Der wegen des Nackten dem Künstler gemachte Vorwurf blieb
aber nicht der einzige, der ihn des Unchristlichen zieh. In den 1564
veröffentlichten ,,due dialoghi“ des Giovanni Andrea Gilio von Fabri-
ano tadelt der Kanonikus Ruggiero Coradini die der Andacht und
Ehrfurcht widersprechende Verletzung des Theologisch-
Historischen. Die zum Theil sehr kindisch vertheidigten Be- r
denken betreffen die Bartlosigkeit Christi, die Furchtsamkeit der Ma-
donna, die, als willenseinig mit ihrem Sohne, doch den gleichen Ab-
scheu vor den Verdammten zeigen müsse, die Flügellosigkeit der
Engel und die fehlerhafte Charakteristik der Teufel, die keine
Schwänze und Hörner hätten, die Verschiedenartigkeit im Zustande
der Auferstehenden, der Flug der Auserwählten gen oben, die An-
bringung des Charon. Ja, er will, obgleich er aus der Bibel direkt
widerlegt wird, selbst die beiden Bücher nicht gelten lassen, da nur
das Gewissen am Jüngsten Gericht entschuldige oder verklage.
Auch findet ein Anderer die gewaltsamen Bewegungen der Märtyrer
unschicklich, eine Meinung, die sich mit der Lomazzos berührt,
welcher in den robusten Heiligen nicht das Decorum gewahrt sieht.
Die Einwände jenes ungebildeten Mannes, der zu den von Lodo-
vico Domenichi als „Ignoranten und Betbrüder“ verspotteten Kritikern
gehört, bedürfen keiner Widerlegung, aber sie verdienen es doch
erwähnt zu werden, weil Einiges, was er vorbringt, spätere Urtheile
gleichsam einleitet. Diese, oft wiederholt, beschuldigen Michelangelo,
mit grausamer Einseitigkeit den Schrecken geschildert, alle seeli-