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I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.
tons führen sollte, diese Renaissance ist doch nur eine Fata morgana, die
geschichtsphilosophische Konstruktion eines genialen „Dilettanten"1), der
letzte Triumph, den die Geschichtskonstruktion des italienischen Humanis-
mus erlebte. Nur in dessen verzerrtem Bilde war das Mittelalter ein dunkles
Konglomerat schattenhafter Typen, aus dem der vollplastische Mensch
der Renaissance herauswachsen sollte; nur das gegenwartsfrohe Selbstgefühl
der jungen Renaissance selbst konnte die Fäden abschneiden, die sie mit
der Vergangenheit verband, konnte alles Fremde als solches barbarischem
Unwert gleichsetzen. Die Gleichstellung Burckhardts von Renaissance und
Individualität „ist richtig nur künstlerisch, aber nicht darüber hinaus.
Wer diese Auffassung vertritt, urteilt nach dem, was das Mittelalter schrift-
lich und bildlich über seine Menschen zu sagen wußte, nicht nach dem,
was sie taten"2).
Wem aber das Mittelalter nicht ein solches Schattenreich war, dem
konnte nicht entgehen, daß die Wurzeln der Renaissance als Individualismus
in jenem lagen, daß diese „aus Barbarenkraft, aus Barbarenrealismus und
aus dem christlichen Mittelalter"3) herausgewachsen ist. Diese Auffassung
läßt sich bis in die Anfänge der romantischen Bewegung im 18. Jahrhundert
zurückverfolgen; in Dialogen, die unter dem Titel „The Investigator"
1755 in London erschienen, war zuerst die Bedeutung der Goten (Germanen)
für die kulturelle Entwicklung Europas behauptet worden, und dieser An-
griff gegen die unbedingte lateinische Suprematie schien bedrohlich genug,
um G. B. Piranesi zu einer Exoffoverteidigung in seinem Buch „Della
Magnificenza ed Architettura de' Romani" zu veranlassen4). Auch Gibbon
hat den germanischen Anspruch aufgenommen, der seitdem kaum jemals
ganz verstummte; die nationale Voreingenommenheit, die in ihm natur-
gemäß mitschwingt, ist auch in der letzten Fassung der Lehre von der un-
bedingt maßgebenden Bedeutung des Germanentums für die Renaissance
nicht ganz unterdrückt. Die unbedingte Genauigkeit und vorurteilslose
Akribie, die Ratzel für die Behandlung gerade dieses heiklen Themas aus-
drücklich gefordert hat5), herrscht nicht überall in Ludwig Woltmanns
Buch, das die italienische Renaissance ausschließlich von der germanischen
Rasse getragen sein läßt und so den stärksten Gegenpol zur Auffassung
9 Fueter, a. a. O. S. 598; Trog, J. Burckhardt, Basel 1898, S. 159; Philippi, a. a. O.
S. 154 ff.; Emile Gebhart, La Renaissance italienne et la philosophie de l'histoire, Paris 1887.
2) Dietrich Schäfer, Weltgeschichte der Neuzeit, 1907, I, S. 13 (nach Philippi, S. 157);
vgl. Lindner, Geschichtsphilosophie3, S. 171 ff.
3) C. Neumann, Byzantinische Kultur und Renaissancekultur, Berlin und Stuttgart
1903, S. 42.
4) Vgl. Albert Giesecke, G. B. Piranesi, in Meister der Graphik VI Bd., S. lOf.
5) Fr. Ratzel, Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive in Historische
Zeitschrift, N. F. LVII, S. 10.
I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.
tons führen sollte, diese Renaissance ist doch nur eine Fata morgana, die
geschichtsphilosophische Konstruktion eines genialen „Dilettanten"1), der
letzte Triumph, den die Geschichtskonstruktion des italienischen Humanis-
mus erlebte. Nur in dessen verzerrtem Bilde war das Mittelalter ein dunkles
Konglomerat schattenhafter Typen, aus dem der vollplastische Mensch
der Renaissance herauswachsen sollte; nur das gegenwartsfrohe Selbstgefühl
der jungen Renaissance selbst konnte die Fäden abschneiden, die sie mit
der Vergangenheit verband, konnte alles Fremde als solches barbarischem
Unwert gleichsetzen. Die Gleichstellung Burckhardts von Renaissance und
Individualität „ist richtig nur künstlerisch, aber nicht darüber hinaus.
Wer diese Auffassung vertritt, urteilt nach dem, was das Mittelalter schrift-
lich und bildlich über seine Menschen zu sagen wußte, nicht nach dem,
was sie taten"2).
Wem aber das Mittelalter nicht ein solches Schattenreich war, dem
konnte nicht entgehen, daß die Wurzeln der Renaissance als Individualismus
in jenem lagen, daß diese „aus Barbarenkraft, aus Barbarenrealismus und
aus dem christlichen Mittelalter"3) herausgewachsen ist. Diese Auffassung
läßt sich bis in die Anfänge der romantischen Bewegung im 18. Jahrhundert
zurückverfolgen; in Dialogen, die unter dem Titel „The Investigator"
1755 in London erschienen, war zuerst die Bedeutung der Goten (Germanen)
für die kulturelle Entwicklung Europas behauptet worden, und dieser An-
griff gegen die unbedingte lateinische Suprematie schien bedrohlich genug,
um G. B. Piranesi zu einer Exoffoverteidigung in seinem Buch „Della
Magnificenza ed Architettura de' Romani" zu veranlassen4). Auch Gibbon
hat den germanischen Anspruch aufgenommen, der seitdem kaum jemals
ganz verstummte; die nationale Voreingenommenheit, die in ihm natur-
gemäß mitschwingt, ist auch in der letzten Fassung der Lehre von der un-
bedingt maßgebenden Bedeutung des Germanentums für die Renaissance
nicht ganz unterdrückt. Die unbedingte Genauigkeit und vorurteilslose
Akribie, die Ratzel für die Behandlung gerade dieses heiklen Themas aus-
drücklich gefordert hat5), herrscht nicht überall in Ludwig Woltmanns
Buch, das die italienische Renaissance ausschließlich von der germanischen
Rasse getragen sein läßt und so den stärksten Gegenpol zur Auffassung
9 Fueter, a. a. O. S. 598; Trog, J. Burckhardt, Basel 1898, S. 159; Philippi, a. a. O.
S. 154 ff.; Emile Gebhart, La Renaissance italienne et la philosophie de l'histoire, Paris 1887.
2) Dietrich Schäfer, Weltgeschichte der Neuzeit, 1907, I, S. 13 (nach Philippi, S. 157);
vgl. Lindner, Geschichtsphilosophie3, S. 171 ff.
3) C. Neumann, Byzantinische Kultur und Renaissancekultur, Berlin und Stuttgart
1903, S. 42.
4) Vgl. Albert Giesecke, G. B. Piranesi, in Meister der Graphik VI Bd., S. lOf.
5) Fr. Ratzel, Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive in Historische
Zeitschrift, N. F. LVII, S. 10.