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IV. Kapitel: Kritik.
vorzugten Heiligen entwickeln sich so enge Beziehungen, daß die Dar-
stellung solcher Personen eine Lokalisierung mit sehr großer Bestimmtheit
gestattet; die hl. Ulrich und Afra deuten immer auf Augsburg, Rupert, Virgil,
Vital auf Salzburg, Genofeva auf Paris usw. Andere ikonographische Schlüsse
sind möglich; reiche orientalische Trachten auf einem italienischen Quattro-
centobild werden uns an Venedig denken lassen1), das Vorkommen slavischer
Typen und Kostüme auf einem altdeutschen Bild seine Entstehung in Öster-
reich wahrscheinlich machen2). Das Vorkommen eines Bauwerkes oder einer
Vedute einer Stadt wird ein schwerwiegendes Argument für die Entstehung
des Denkmals in ihr sein; Konrad Witz' Fischzug Petri kann wohl nur in
Genf, die Passionsfolge von 1462 im Wiener Schottenstift nur in Wien ent-
standensein. Aber auch hier wird hier und da eine andere Erklärung möglich
sein; der Künstler kann bei der Vedute eine eigene ältere Zeichnung oder die-
jenige eines anderen benützt haben3), das Bild mit den Ortspatronen kann
in einer fremden Stadt gemalt worden sein, ein wandernder Künstler oder
einweitgereister Besteller können eine ortsfremde ikonographische Gepflogen-
heit importiert haben.
Auch für die lokale Bestimmung sind die Formen wieder am wichtigsten;
sie enthalten, wie wir sahen, den Schlüssel zur zeitlichen Hauptentwicklung,
deren abstrakte Allgemeingültigkeit in den lokalen Vorgängen in konkrete
Erscheinung tritt. Stilphasen ziehen sich auseinander oder drängen sich zu-
sammen und der Spezialuntersuchung gelingt es, die halbverschütteten Spuren
der „lokalen Rinnsale", wie Vöge sagt, auszugraben und den ungewöhnlichen
Stilwandlungsprozeß in seine von individuellen Künstlern und Kunstwerken
getragenen Elemente zu zergliedern. Im lokal eingeengten Gebiete wird es
deutlicher, daß die besonderen Eigentümlichkeiten in letzter Linie auf den
Besonderheiten der ausübenden Künstler aufgebaut sind, und selbst ein
einzelnes Objekt kann der Herd ausstrahlender künstlerischer Anregung
werden; wir rechnen die antiken Monumente Südfrankreichs zu den Faktoren
der lokalen Stilbildung im Mittelalter4), kennen den entscheidenden Anstoß,
den die Bekanntschaft mit bestimmten Beispielen fremder Kunst im geeig-
neten Augenblick gegeben kaben kann5) und beobachten bisweilen die Aus-
i) Sehr stark betont diese orientalischen Äußerlichkeiten in der venezianischen Kunst
W. Bode, La Renaissance au Musee de Berlin in Gazette des Beaux-Arts 1889, pag. 489.
2) Z. B. Die Kreuzigung Cranachs in Wien; vgl. Dörnhöffer, Ein Jugendwerk Lukas
Cranachs, im Jahrbuch der k. k. Zentralkommission II, S. 175.
3) Dürers „großes Glück" ist doch natürlich nicht in Klausen entstanden, Cima muß
seine Ansicht von Conegliano auf der Madonna unter dem Orangenbaum im Wiener Hof-
museum nicht an Ort und Stelle gemalt haben.
4) Springer, Das Nachleben der Antike im Mittelalter in Bilder aus der neueren Kunst-
geschichte, Bonn 1867, S. 6, wo auch andere Beispiele zusammengestellt sind.
5) A. Goldschmidt, Studien zur Geschichte der sächsischen Skulptur in der Übergangs-
zeit vom romanischen zum gotischen Stil, Berlin 1902.
IV. Kapitel: Kritik.
vorzugten Heiligen entwickeln sich so enge Beziehungen, daß die Dar-
stellung solcher Personen eine Lokalisierung mit sehr großer Bestimmtheit
gestattet; die hl. Ulrich und Afra deuten immer auf Augsburg, Rupert, Virgil,
Vital auf Salzburg, Genofeva auf Paris usw. Andere ikonographische Schlüsse
sind möglich; reiche orientalische Trachten auf einem italienischen Quattro-
centobild werden uns an Venedig denken lassen1), das Vorkommen slavischer
Typen und Kostüme auf einem altdeutschen Bild seine Entstehung in Öster-
reich wahrscheinlich machen2). Das Vorkommen eines Bauwerkes oder einer
Vedute einer Stadt wird ein schwerwiegendes Argument für die Entstehung
des Denkmals in ihr sein; Konrad Witz' Fischzug Petri kann wohl nur in
Genf, die Passionsfolge von 1462 im Wiener Schottenstift nur in Wien ent-
standensein. Aber auch hier wird hier und da eine andere Erklärung möglich
sein; der Künstler kann bei der Vedute eine eigene ältere Zeichnung oder die-
jenige eines anderen benützt haben3), das Bild mit den Ortspatronen kann
in einer fremden Stadt gemalt worden sein, ein wandernder Künstler oder
einweitgereister Besteller können eine ortsfremde ikonographische Gepflogen-
heit importiert haben.
Auch für die lokale Bestimmung sind die Formen wieder am wichtigsten;
sie enthalten, wie wir sahen, den Schlüssel zur zeitlichen Hauptentwicklung,
deren abstrakte Allgemeingültigkeit in den lokalen Vorgängen in konkrete
Erscheinung tritt. Stilphasen ziehen sich auseinander oder drängen sich zu-
sammen und der Spezialuntersuchung gelingt es, die halbverschütteten Spuren
der „lokalen Rinnsale", wie Vöge sagt, auszugraben und den ungewöhnlichen
Stilwandlungsprozeß in seine von individuellen Künstlern und Kunstwerken
getragenen Elemente zu zergliedern. Im lokal eingeengten Gebiete wird es
deutlicher, daß die besonderen Eigentümlichkeiten in letzter Linie auf den
Besonderheiten der ausübenden Künstler aufgebaut sind, und selbst ein
einzelnes Objekt kann der Herd ausstrahlender künstlerischer Anregung
werden; wir rechnen die antiken Monumente Südfrankreichs zu den Faktoren
der lokalen Stilbildung im Mittelalter4), kennen den entscheidenden Anstoß,
den die Bekanntschaft mit bestimmten Beispielen fremder Kunst im geeig-
neten Augenblick gegeben kaben kann5) und beobachten bisweilen die Aus-
i) Sehr stark betont diese orientalischen Äußerlichkeiten in der venezianischen Kunst
W. Bode, La Renaissance au Musee de Berlin in Gazette des Beaux-Arts 1889, pag. 489.
2) Z. B. Die Kreuzigung Cranachs in Wien; vgl. Dörnhöffer, Ein Jugendwerk Lukas
Cranachs, im Jahrbuch der k. k. Zentralkommission II, S. 175.
3) Dürers „großes Glück" ist doch natürlich nicht in Klausen entstanden, Cima muß
seine Ansicht von Conegliano auf der Madonna unter dem Orangenbaum im Wiener Hof-
museum nicht an Ort und Stelle gemalt haben.
4) Springer, Das Nachleben der Antike im Mittelalter in Bilder aus der neueren Kunst-
geschichte, Bonn 1867, S. 6, wo auch andere Beispiele zusammengestellt sind.
5) A. Goldschmidt, Studien zur Geschichte der sächsischen Skulptur in der Übergangs-
zeit vom romanischen zum gotischen Stil, Berlin 1902.