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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0345
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B. Kritik der Denkmäler.

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Strahlung, die von einem überragenden Kunstwerk durch die ganze Folgezeit
hindurch ausgegangen sein kann1).
Schwieriger gestaltet sich die lokale Bestimmung, wenn die völkische
Zugehörigkeit der Künstler, die sich im Einzelfall mit der örtlichen Ent-
stehung kreuzt, mit herangezogen wird. Die zünftige Organisation des
Mittelalters und das akademische Kastenwesen der Folgezeit haben die Frei-
zügigkeit der Künstler kaum wesentlich unterdrückt; sofern Regeln bestanden,
die zum Schutze des Eingeborenen aufgestellt worden waren, sind sie durch
Ausnahmen gründlich zerlöchert. Namentlich in den nachmittelalterlichen
Jahrhunderten begegnet uns überall ein reges Durcheinanderfluten von
Künstlern der verschiedensten Nationalität, wobei es nicht immer leicht zu
entscheiden ist, ob die Eingewanderten sich rein rezipierend verhielten, wie
es gewöhnlich bei den nordischen Künstlern in Italien angenommen wird, oder
ob sie ihren Adoptivvaterländern neue künstlerische Elemente zuführten, wie
dies umgekehrt bei den Italienern im Norden vorausgesetzt zu werden pflegt;
in vielen Fällen wird wohl eine wechselseitige Beeinflussung und damit ein
Austausch von Formen stattfinden, da die landläufige Vereinfachung des künst-
lerischen Verhältnisses zwischen zwei Nationen zur Annahme einer führenden
und einer geführten doch zumeist allzu primitiv sein dürfte (s. V. Kap. § 2).
Jedenfalls aber gibt eine solche Konstruktion keine Hilfe zur Bestimmung
des einzelnen Denkmals; auch hier wird nur die Komplexität des Kunstwerkes
die Einordnung ermöglichen. Die Wandmalereien eines Italieners in Deutsch-
land oder eines Deutschen in Italien erkennen wir aus dem Widerspruch
zwischen den Stilformen und dem in diesen Fällen gesicherten Entstehungs-
ort; anderwärts, etwa bei einer italienischen Handschrift, die von einem
Franzosen oder Deutschen illuminiert wurde, werden wir auf andere Merk-
male angewiesen sein und bei einem versprengten Kunstwerk, der Tafel
Memlings in Danzig, dem Altar Scorels in Obervellach, die Lokalisierung nur
auf Grund von Provenienzangaben oder ganz äußerlichen Kennzeichen vor-
nehmen können.
So ist im Fall einer Differenz die völkische Zugehörigkeit seines Schöpfers
für die Bestimmung des Kunstwerkes ausschlaggebend; daß jener, in der
Fremde tätig, durch Material und Arbeitsbedingungen seines neuen Aufent-
haltsortes oder durch die Wünsche und Bedürfnisse seines neuen Publikums
gebunden wird, ist ein Faktor seiner individuellen Entwicklung2), der — wie

9 Ein klassisches Beispiel ist die Rolle, die das Straßburger Münster, noch im Bau
oder besonders später für die ganze deutsche Gotik gespielt hat. Siehe Dehio, Historische
Betrachtungen über die Kunst im Elsaß, in Historische Zeitschrift 104 (1910), S. 38. Ein
kleines, rein lokales Beispiel bei E. Tietze-Conrat, Ein niederösterreichische Skulpturen-
gruppe vom Ende des 17. Jahrhunderts, im Jahrbuch der Zentralkommission 1906, II,
Sp. 73.

2) Man denke z. B. an die Stilwandlung des Toskaners Sansovino in Venedig. Burck-
hardt, Cicerone2, I, 323.
 
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