B. Kritik der Denkmäler.
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oder ob sie in deren entwicklungsgeschichtliche Auffassung überhaupt nicht
hineingehört — so weit können die Ansichten divergieren —, soll hier nicht
erörtert werden. Hier ist nur der methodische Charakter der Individual-
bestimmung zu besprechen, an deren Möglichkeit und Nützlichkeit ihre un-
leugbaren Resultate zu zweifeln nicht gestatten. Durch eine immer weiter-
gehende Differenzierung der örtlich-zeitlichen Bestimmung, die zur völligen
Auflösung in die Einzelelemente der Entwicklung führen würde, gelangt
man nur zum einzelnen Kunstwerk, aber nicht zum Künstler; denn seine
Individualität umfaßt Elemente, die nicht restlos selbst in die beschränkte
Entwicklungsphase hineingehen, die wir durch die zeitliche Beschränkung
einer lokalen Entwicklung als „Schule" gewinnen. Und doch besteht diese
Schule ebenso aus einzelnen, in bestimmten Verhältnissen zueinander stehen-
den Individuen, wie ja auch alle die Werke, aus denen die Entwicklung kon-
struiert wird, in letzter Linie die Erzeugnisse eines individuellen Schöpfers,
der phänomenale Ausdruck einer einmaligen psychischen Disposition sind1).
Demnach geht die stilkritische Bestimmung auf individuelle Urheber
von zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus. Einmal bildet die indi-
viduelle psychische Disposition den Ausgangspunkt; die sogenannte Kenner-
schaft beruht dann auf einem möglichst tiefen Einblick in das Wesen des
betreffenden Künstlers, auf einem intimen Vertrautsein mit dessen ganz
persönlicher Ausdrucksweise. Diese Fähigkeit, die individuelle Empfindungs-
weise eines Künstlers wahrzunehmen2), ist zu allen Zeiten von den Kunst-
liebhabern angestrebt worden; aber diese vage, mehr auf instinktivem Er-
fassen als auf sachlichen Gründen aufgebaute Kennerschaft schien zu sub-
jektiv, um wissenschaftlicher Arbeit als ausreichendes Fundament dienen zu
können. Deri hat den Versuch gemacht, für eine solche kunstpsycho-
logische Arbeitsweise, die zwischen die induktiv gefundenen Glieder einer
Entwicklungsreihe solche „gefühlsmäßig" bestimmte Objekte interpoliert,
eine methodische Grundlage zu schaffen. „Die Gefühlsverfassung, in die man
beim Sehen (oder Hören oder Lesen) des neu zu bestimmenden Einzelwerkes
gerate, gleiche jener anderen, die man vom Nacherleben der bekannten Werke
des Autors, als gerade für diesen Autor typisch, bereits kenne"3). Was dann
zur Begründung dieses, eine alte Praxis neu umschreibenden Satzes vorge-
bracht wird, baut das ästhetische Erleben auf ein Erleben von Gefühlen auf,
Kunstwissenschaft 1908, S. 159f.; Dvorak, Italienische Kunstwerke in Dalmatien im Kunst-
historischen Jahrbuch der k. k. Zentralkommission 1911, S. 3.
L) Daß dies für das frühe Mittelalter so gut gilt wie für irgendeine spätere, uns schärfer
individualistisch berührende Zeit, hebt Swarzenski (Reichenauer Malerei und Ornamentik
im Übergang von der karolingischen zur ottonischen Zeit im Repertorium für Kuntwissen-
schaft, XXVI, S. 478) mit Recht hervor.
2) A. Springer, Kunstkenner und Kunsthistoriker, Im neuen Reich 1881, II, S. 737.
3) M. Deri, Versuch einer psychologischen Kunstlehre, Stuttgart 1912, S. 2.
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oder ob sie in deren entwicklungsgeschichtliche Auffassung überhaupt nicht
hineingehört — so weit können die Ansichten divergieren —, soll hier nicht
erörtert werden. Hier ist nur der methodische Charakter der Individual-
bestimmung zu besprechen, an deren Möglichkeit und Nützlichkeit ihre un-
leugbaren Resultate zu zweifeln nicht gestatten. Durch eine immer weiter-
gehende Differenzierung der örtlich-zeitlichen Bestimmung, die zur völligen
Auflösung in die Einzelelemente der Entwicklung führen würde, gelangt
man nur zum einzelnen Kunstwerk, aber nicht zum Künstler; denn seine
Individualität umfaßt Elemente, die nicht restlos selbst in die beschränkte
Entwicklungsphase hineingehen, die wir durch die zeitliche Beschränkung
einer lokalen Entwicklung als „Schule" gewinnen. Und doch besteht diese
Schule ebenso aus einzelnen, in bestimmten Verhältnissen zueinander stehen-
den Individuen, wie ja auch alle die Werke, aus denen die Entwicklung kon-
struiert wird, in letzter Linie die Erzeugnisse eines individuellen Schöpfers,
der phänomenale Ausdruck einer einmaligen psychischen Disposition sind1).
Demnach geht die stilkritische Bestimmung auf individuelle Urheber
von zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus. Einmal bildet die indi-
viduelle psychische Disposition den Ausgangspunkt; die sogenannte Kenner-
schaft beruht dann auf einem möglichst tiefen Einblick in das Wesen des
betreffenden Künstlers, auf einem intimen Vertrautsein mit dessen ganz
persönlicher Ausdrucksweise. Diese Fähigkeit, die individuelle Empfindungs-
weise eines Künstlers wahrzunehmen2), ist zu allen Zeiten von den Kunst-
liebhabern angestrebt worden; aber diese vage, mehr auf instinktivem Er-
fassen als auf sachlichen Gründen aufgebaute Kennerschaft schien zu sub-
jektiv, um wissenschaftlicher Arbeit als ausreichendes Fundament dienen zu
können. Deri hat den Versuch gemacht, für eine solche kunstpsycho-
logische Arbeitsweise, die zwischen die induktiv gefundenen Glieder einer
Entwicklungsreihe solche „gefühlsmäßig" bestimmte Objekte interpoliert,
eine methodische Grundlage zu schaffen. „Die Gefühlsverfassung, in die man
beim Sehen (oder Hören oder Lesen) des neu zu bestimmenden Einzelwerkes
gerate, gleiche jener anderen, die man vom Nacherleben der bekannten Werke
des Autors, als gerade für diesen Autor typisch, bereits kenne"3). Was dann
zur Begründung dieses, eine alte Praxis neu umschreibenden Satzes vorge-
bracht wird, baut das ästhetische Erleben auf ein Erleben von Gefühlen auf,
Kunstwissenschaft 1908, S. 159f.; Dvorak, Italienische Kunstwerke in Dalmatien im Kunst-
historischen Jahrbuch der k. k. Zentralkommission 1911, S. 3.
L) Daß dies für das frühe Mittelalter so gut gilt wie für irgendeine spätere, uns schärfer
individualistisch berührende Zeit, hebt Swarzenski (Reichenauer Malerei und Ornamentik
im Übergang von der karolingischen zur ottonischen Zeit im Repertorium für Kuntwissen-
schaft, XXVI, S. 478) mit Recht hervor.
2) A. Springer, Kunstkenner und Kunsthistoriker, Im neuen Reich 1881, II, S. 737.
3) M. Deri, Versuch einer psychologischen Kunstlehre, Stuttgart 1912, S. 2.