B. Kritik der Denkmäler.
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unter dem Einfluß der mächtig und erfolgreich aufgeblühten naturgeschicht-
lichen Betrachtungsweise; sie erhielt ihre klassische Ausbildung durch einen
Mann, der seinem wissenschaftlichen Bildungsgang nach den Naturwissen-
schaften nahestand, Giovanni Morelli1). Dieser versuchte für die Meister
der italienischen Schulen, die er speziell studierte, objektive Kennzeichen
festzustellen und die individuellen Züge aus dem gemeinsamen Besitz der
Schule oder der Werkstatt zu isolieren; den systematischen Ausbau seiner
Grundsätze, zu dem der berühmte italienische Kenner nur Ansätze gegeben
hat, hat später B. Berenson vervollkommnet, in dessen Fassung die Prin-
zipien der Morellischen Methode besprochen werden sollen2).
Die Lehre prüft die Elemente eines Kunstwerks auf ihre Individuali-
sierungsfähigkeit hin. Einzelne sind in so hohem Grade tragend und für die
Verkörperung des Kunstwollens der betreffenden Zeit so wesentlich, daß sie
nicht das Eigentum eines einzelnen bleiben können, sondern Gemeingut der
ganzen Periode, der Nation, der Schule werden; aus ihrem Vorkommen läßt
sich daher nur eine zeitliche und lokale Bestimmung gewinnen. Andere
Elemente, die Typik, die Komposition usw., führen uns wenigstens in die
Schule ein und beschränken die Zuschreibungsmöglichkeiten so auf einen
engeren Kreis, geben aber kein Mittel zur Feststellung des individuellen
Meisters; denn der einzelne Meister teilt diese Eigenschaften mit Lehrern,
Mitschülern, Gehilfen, und ihre Varianten erscheinen wesentlich koordiniert,
erlauben also nicht, durch eine Unterteilung des verbleibenden Restes
zu den individuellen Merkmalen zu gelangen. Es müssen daher andere
Merkmale gesucht werden, die ihrem Charakter nach nicht geeignet sind, in
den gemeinsamen künstlerischen Besitz einer ganzen Schule überzugehen.
Diese Merkmale hat Morelli hauptsächlich in den morphologischen Details
von Kopf und Händen gefunden und durch sorgfältige, die objektiven Formen
und Formvarianten notierende Analyse authentischer Werke die Formen-
grammatik ihrer Maler aufgestellt und auf Grund dieser die Zuweisung un-
gesicherter Werke an sie vorgenommen; Berenson hat diese morphologischen
Kennzeichen zu einer Art Werttabelle zusammengestellt.
Ihre Ausnützung für die Individualbestimmung geht von der Beob-
achtung aus, daß sich jeder Maler für die Wiedergabe von regelmäßig wieder-
kehrenden, aber für den Charakter des betreffenden Modells nicht ausschlag-
gebenden Details eine eigene Formensprache bildet; während diejenigen
Teile, die die Träger des persönlichen Ausdrucks eines Gesichtes sind (Nase,
Auge), in der Regel individuell nach den Eigenschaften des Modells gestaltet
werden, genügt für andere eine einmal gefundene und stereotyp angewendete
9 Iwan Lermolieff, Kunstkritische Studien über italienische Malerei. Die Galerien
Borghese und Doria Panfili in Rom. Leipzig 1890, S. 1 ff., Prinzip und Methode.
2) B. Berenson, Rudiments of Connoisseurship in The Study and Criticism of Italian
Art, London 1902, pag. 111 ff.
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unter dem Einfluß der mächtig und erfolgreich aufgeblühten naturgeschicht-
lichen Betrachtungsweise; sie erhielt ihre klassische Ausbildung durch einen
Mann, der seinem wissenschaftlichen Bildungsgang nach den Naturwissen-
schaften nahestand, Giovanni Morelli1). Dieser versuchte für die Meister
der italienischen Schulen, die er speziell studierte, objektive Kennzeichen
festzustellen und die individuellen Züge aus dem gemeinsamen Besitz der
Schule oder der Werkstatt zu isolieren; den systematischen Ausbau seiner
Grundsätze, zu dem der berühmte italienische Kenner nur Ansätze gegeben
hat, hat später B. Berenson vervollkommnet, in dessen Fassung die Prin-
zipien der Morellischen Methode besprochen werden sollen2).
Die Lehre prüft die Elemente eines Kunstwerks auf ihre Individuali-
sierungsfähigkeit hin. Einzelne sind in so hohem Grade tragend und für die
Verkörperung des Kunstwollens der betreffenden Zeit so wesentlich, daß sie
nicht das Eigentum eines einzelnen bleiben können, sondern Gemeingut der
ganzen Periode, der Nation, der Schule werden; aus ihrem Vorkommen läßt
sich daher nur eine zeitliche und lokale Bestimmung gewinnen. Andere
Elemente, die Typik, die Komposition usw., führen uns wenigstens in die
Schule ein und beschränken die Zuschreibungsmöglichkeiten so auf einen
engeren Kreis, geben aber kein Mittel zur Feststellung des individuellen
Meisters; denn der einzelne Meister teilt diese Eigenschaften mit Lehrern,
Mitschülern, Gehilfen, und ihre Varianten erscheinen wesentlich koordiniert,
erlauben also nicht, durch eine Unterteilung des verbleibenden Restes
zu den individuellen Merkmalen zu gelangen. Es müssen daher andere
Merkmale gesucht werden, die ihrem Charakter nach nicht geeignet sind, in
den gemeinsamen künstlerischen Besitz einer ganzen Schule überzugehen.
Diese Merkmale hat Morelli hauptsächlich in den morphologischen Details
von Kopf und Händen gefunden und durch sorgfältige, die objektiven Formen
und Formvarianten notierende Analyse authentischer Werke die Formen-
grammatik ihrer Maler aufgestellt und auf Grund dieser die Zuweisung un-
gesicherter Werke an sie vorgenommen; Berenson hat diese morphologischen
Kennzeichen zu einer Art Werttabelle zusammengestellt.
Ihre Ausnützung für die Individualbestimmung geht von der Beob-
achtung aus, daß sich jeder Maler für die Wiedergabe von regelmäßig wieder-
kehrenden, aber für den Charakter des betreffenden Modells nicht ausschlag-
gebenden Details eine eigene Formensprache bildet; während diejenigen
Teile, die die Träger des persönlichen Ausdrucks eines Gesichtes sind (Nase,
Auge), in der Regel individuell nach den Eigenschaften des Modells gestaltet
werden, genügt für andere eine einmal gefundene und stereotyp angewendete
9 Iwan Lermolieff, Kunstkritische Studien über italienische Malerei. Die Galerien
Borghese und Doria Panfili in Rom. Leipzig 1890, S. 1 ff., Prinzip und Methode.
2) B. Berenson, Rudiments of Connoisseurship in The Study and Criticism of Italian
Art, London 1902, pag. 111 ff.