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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0354

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IV. Kapitel: Kritik.

Richtungen der Malerei, die die Probleme der Einzelform fortführen oder auf-
greifen, zu bewußter Umbildung aller Naturformen, zu einer stilisierenden
Umgestaltung, so daß auch hier jene naturalistischen Maßstäbe versagen.
Ebenso groß sind die Schwierigkeiten, die „biologische" Methode über die
andere Grenze zu tragen. In der mittelalterlichen Kunst wächst der Anteil des
Konventionellen sehr wesentlich; übernommene Formen jeder Art genügen
dem Bedürfnis nach Naturwiedergabe in der Regel vollkommen und die Ab-
weichungen vom Typischen erfolgen aus dekorativen Gründen, zur Intensivi-
zierung des Ausdrucks usw., also aus ästhetischen Motiven, deren individuelle
Färbung sehr schwer faßbar ist, weil uns das unmittelbare Nacherleben versagt
ist und weil anderseits die Nachahmbarkeit, ja der zwingend zur Nachahmung
veranlassende Charakter dieser Abweichungen einleuchtend ist. Infolgedessen
ist auch in der mittelalterlichen Kunst der Wert jener auf naturalistischen
Errungenschaften aufgebauten Methode geringer; wir gelangen durch Grup-
pierung der feinsten Nuancen und Besonderheiten zur Werkstätte, zu einem
engen Kunstkreis, der die spezielle Ausbildung einer Tradition zeigt oder den
Einfluß einer dominierenden Persönlichkeit widerspiegelt, aber vorderhand
kaum zur Feststellung der individuellen Note; für die mittelalterliche Kunst
bleibt vorläufig in der Regel die Werkstatt das kleinste teilbare Maß, die
Atomisierung in individuelle Künstler bleibt zumeist versagt1).
Ebenso lassen sich gewisse Bedenken nicht unterdrücken, sobald die
in der Malerei gefundene Methode auf andere Künste übertragen werden soll;
denn immer bildet die Eigenhändigkeit der Arbeit und eine gewisse manuelle,
die Schablonenhaftigkeit von Nebensachen ermöglichende Leichtigkeit ihre

9 Dieser Standpunkt, den namentlich Vöge wiederholt verfochten hat (vgl. Reper-
torium XXIV, S.457 und XXV, S. 119), scheint mir auch jetzt noch der prinzipiell richtigste
zu sein. Swarzenskis Versuche, innerhalb der Regensburger Buchmalerei zu greifbaren
künstlerischen Einzelpersönlichkeiten zu gelangen (Regensburger Buchmalerei, Leipzig 1901,
S. 149 und 73) verhindern doch nicht, daß auch er in der Praxis (S. 80) zugibt, daß an den
Arbeiten der Einzelpersönlichkeit mehrere Hände beteiligt waren; auch seine methodischen
Ausführungen gegen Vöge (Reichenauer Malerei und Ornamentik am Übergang von der
karolingischen zur ottonischen Zeit im Repertorium für Kunstwissenschaft XXVI, S. 476)
bezeichnen die Notwendigkeit, Kollektivpersönlichkeiten anzunehmen, nur als ein Stili-
sierungsmittel der Darstellung. Wenn sich auch in primitiven oder uns primitiv erscheinen-
den Zeiten die Entwicklungsvorgänge zweifellos so gut wie in anderen Perioden durch Einzel-
persönlichkeiten abgespielt haben und solche Arbeiten also nicht „gleichsam als neutrale
Erzeugnisse aufzufassen sind, die aus dem Schoß der Schule wie ein natürliches Produkt auf-
gehen", so fehlen dennoch vorderhand jene letzten Scheidemittel, die das Individuum von
seiner unmittelbaren Einflußsphäre trennen. In demselben, die Einzelpersönlichkeit von
ihrer Werkstatt nicht absondernden Sinne sind wohl auch die Zuschreibungen zu verstehen,
die z. B. Falke an Nikolaus von Verdun und andere Werkstätten — nicht so sehr Meister —•
gemacht hat. — Von diesem Standpunkt sindmethodische Bedenkengegen die Individualitäts-
bestimmungen bei Rich. Hamann, Die Kapitelle im Magdeburger Dom (im Jahrbuch der
preußischen Kunstsammlungen XXX, S. 56 ff.) zu erheben.
 
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