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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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Heft 6
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Fleischer, Victor: Im Krug zum grünen Kranze, [2]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.66819#0285
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ſchaft! Ausſchauen wie ein Philiſter, da-
mit ſie's nicht merken, wie man ſich ihnen
entzieht: das iſt die Kunſt. Und endlich:
'raus, ſobald man kann. No ja“, er drückte
ihm noch einmal die Hand, „probieren Sie's
halt auch ſo! Servus.“

Dieſes letzte Geſpräch wollte Lorenz den
ganzen Nachmittag nicht mehr aus dem
Sinn. War's denn wirklich ſo arg in der
Kleinſtadt, wie der Kollege immer wieder
ſagte? Lauerte wirklich in allen Ecken das
Philiſterium? Er mußte daran denken,
wie er in der erſten Nacht durch die Stra-
ßen gewandert war, erfüllt von einer ähn-
lichen Beklommenheit wie jetzt, und wie
er im übermut des Nichtunterliegenwollens
in jene Gymnaſiaſtenkneipe geraten war.
Ja, waren denn dieſe ſaufenden, ran-
dalierenden Studenten nicht ebenſo arge
Bierphiliſter wie die andern, gegen die er
da Bundesgenoſſen zu finden gedacht hatte?

Vom erſten Tag an, ſeit er ſich um die
Lehrſtelle an dem Provinzgymnaſium be-
worben, war er die Sorge und Angſt vor
dieſer kleinen Welt nicht mehr losgewor-
den. Aber er hatte ſich doch auch vieles
erhofft von der entlegenen, ſtillen Klein-
ſtadt. Die Freude am Beruf meinte er hier
vor allem zu finden. Denn wenn er ganz
ehrlich gegen ſich ſein wollte, mußte er ſich
eingeſtehn, daß ihn eigentlich nichts, gar
nichts zum Lehramt hinzog, daß er dieſen
Beruf gedankenlos gewählt hatte, weil ihm
da am eheſten eine ſichere Lebensſtellung
in Ausſicht ſtand. Ja, wenn er ver-
mögend genug geweſen wäre! Von der
Altphilologie lockte es ihn, wie Gluckhenn
richtig vermutet hatte, ſchon längſt hinüber
zur Archäologie und von da weiter zur
Beſchäftigung mit der ganzen Geſchichte
der bildenden Künſte. Aber das waren
Träume, die den Unbemittelten in uferloſe


fleißig und gewiſſenhaft bei ſeinem Brot-
ſtudium geblieben. Dann war das Selt-
ſame gekommen, von dem er heute dem
Kollegen erzählt hatte: eine große Leiden-
ſchaft, die ihn hundert Widerſtände über-
winden und endlich doch verſchüchtert und
erſchreckt zögern ließ, als er vor die Mög-
lichkeit geſtellt war, ſeinen Willen durch-
zuſetzen — um den Preis des Verzichts
auf die Verwertung ſeiner akademiſchen
Studien. Ein Jahr Bedenkzeit war

ihm bewilligt worden. Und ſollte er
jetzt ſchon umkehren? Fand denn Gluck-
henn nicht die Waffe gegen das Phi-
liſterium, gegen das Verſinken in den All-
tag gerade im Beruf? Beruf ... Be-
ruf ... Das war ja nicht der Beruf, die
Arbeit war's, die den ganzen Menſchen,
die alle Kräfte erforderte, nicht die äußer-
liche Beſchäftigung, das Erfülltſein von
Zielen und Wünſchen. Hatte er das? War
ihm das ſein Beruf? Er wußte es nicht.

Eine Stunde lang ſaß er jetzt ſchon vor
ſeinem Schreibtiſch, hatte den Kopf in die
Hände geſtützt und quälte ſich mit dieſen
Fragen.

Wer hatte denn vorgeſtern noch vor dem
„Krug zum grünen Kranz“ geſtanden und
hatte ſich eingebildet, fidel und unter-
nehmungsluſtig zu ſein? War er das
wirklich ſelbſt, der jetzt ſchon ſo verändert
da herumſpintiſierte? Hatte ihn denn
ſo geſchwind die Atmoſphäre des Provinz-
wirtshauſes verſchlungen? Ach, wie war
der ganze Übermut, mit dem er unlängſt
noch dem Philiſterium trotzen wollte, kläg-
lich zuſammengebrochen. Wo war ſeine
Luſtigkeit, ſeine Lebensfreude? Keine an-
dere Ausdrucksform hatte ſein Wider-
ſtand gefunden, als das, was hier — wie
Gluckhenn behauptete — Zweck und In-
halt aller Geſelligkeit war: Kneipen!
Er fühlte ſich im Innerſten beſchämt —
und unſicher.

Dann ſprang er auf 1 5 rannte in den
Zimmern hin und her... Wenn nur wenig-
ſtens die letzten Ferientage vorbei wären,
der Unterricht beginnen wollte. Jetzt blieb
ihm ja wirklich kaum etwas anderes als
die Geſellſchaft im „Krug zum grünen Kran-
ze“. Wenn er nur ſein Cello ſchon da
hätte! Er wollte es dann gleich vom Bahn-
hof holen laſſen. Aber richtig, die Muſik
war ja auch gefährlich, wie Gluckhenn ſagte.
Unſinn! Der übertrieb eben alles. Nein,
wenn die Leute hier ſo eifrig Muſik pflegten,
da konnte es ſo ſchlimm nicht ſein.

Vor dem Spiegel ſtand Lorenz ſtill.
Wahrhaftig, er hatte ſchon vergeſſen ge-
habt, daß er ſeinen Bart geopfert habe.
Pfui Teufel, wie unraſiert er jetzt aus-
ſchaute. Und alle Tage würde ihn nun
das bartloſe Geſicht an den dummen Streich
erinnern.

Um ſich auf andere Gedanken zu brin-
 
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