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40 Jahre Volksstimme Mannheim: 1890-1930 — Mannheim, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.42208#0059
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1890/1930

VOLKSSTHVIIVIE / JUBILÄUMS-AUSGABE

1890/1930

abgesehen, eine rückläufige war. Gerade bei diesem Rück-
blick, nachdem man sich in die schöpferischen Impulse der
Anfangszeit zurückversetzt hat, erkennt man, daß dem
„Freien Bund" heute nicht mehr die Bedeutung zukommen
kann wie früher. Die Gründe sind einfach und jedem, der
die Schwierigkeit und Bitterkeit des Lebens für den größten
Teil der Menschen sieht, einleuchtend. Im Jahre 1923 hatte
nach dem Weggange Wicherts Dr. G. F. Hartlaub die
Leitung des „Freien Bundes" übernommen. Er hatte alles ver-
sucht, den traditionsmäßigen Rahmen und Sinn der Bewegung
zu erhalten, und viele schöne Vortragserlebnisse waren im
Laufe dieser Zeit zu verzeichnen. Aber die Verhältnisse
waren anders geworden, und wir sind überzeugt, daß —
wenn auch spezielle Eigenschaften eines Schöpfers sich nie-
mals auf dessen Nachfolger übertragen lassen, — auch der
Begründer der „Akademie für Jedermann" heute vor neuen
Tatsachen stehen würde.
Die Vortragstätigkeit des ,Freien Bundes" wirkte auch stark
auf den Besuch der Kunsthalle ein, die im ersten Vortrags-
jahr 12 000 Besucher mehr zählte als vorher. Bis heute hat
diese Wechselwirkung angehalten. Die von Wiehert geplan-
ten Ausstellungen wurden von Dr. Hartlaub in einer
Weise durchgeführt, die die Beachtung auch sonst der Kunst
nicht zugänglicher Schichten gefunden hat. Ständig melden
sich Gruppen zu Führungen an, darunter auch die Ge-
werkschaften. Das Interesse hat dort bedauerlicherweise in
letzter Zeit etwas nachgelassen, was durch die Notlage ver-
ständlich, aber nicht ganz gerechtfertigt ist. Die von Hartlaub
arrangierten Ausstellungen fesseln aufs stärkste und bilden
ein wertvolles Mittel der Kunsterziehung.
Die von Wiehert ursprünglich vorgesehenen Einrichtungen
für Bilderbeschaffung und Raterteilung wurden nicht viel be-
nützt. Als eine Art Wiederbelebung und sinngemäße Ueber-
tragung dieser Gedanken auf die Gegenwart ist das Be-
streben des Leiters der Kunsthalle und des „Freien Bundes",
Dr. G. F. Hartlaub, um Einflußnahme auf die künst-
lerischeGestaltung derStadt anzusehen. In einem
interessanten Beitrag in der ersten Nummer der „Lebendigen
Stadt" ist dieses Wollen niedergelegt, das auf eine Fühlung-
nahme und Mitbestimmung der Kunsthalle in allen Fragen
der angewandten Kunst hinzielt. Von der Werbegraphik über
Kunsthandwerk, industrielle Typengestaltung, Architektur und
Ingenieurbaukunst wird der Kontakt mit den schöpferischen
Kräften und der Kunsthalleleitung gewünscht, ein Bestreben,
das unterstützt zu werden verdient, weil es wirklich künst-
lerisches Verständnis einbürgern kann.
Die „Volksstimme" hat den „Freien Bund" unterstützt.
Oscar Geck hat aus Kenntnis der Schichtung des Mannheimer
Publikums den Vorträgen immer größte Aufmerksamkeit zu-
gewandt. So war die „Volksstimme" lange Jahre die einzige
Zeitung in Mannheim, die regelmäßig über die Vortragstätig-
keit berichtete. Die „Volksstimme" ist das Blatt der Arbeiter-
schaft, das aber auch in freigeistigen Bürgerkreisen gelesen
wird. Diese Tatsache muß der Arbeiterleser berücksichtigen,
der die ständigen Referate über den „Freien Bund" für un-
wichtig oder überflüssig hält. Die „Volksstimme" wird wegen
dieser regelmäßigen Berichte von manchem bürgerlichen
Leser in die Hand genommen, was wir als eine „geistige
Werbung auf Umwegen" begrüßen müssen.
Dieser Rückblick zwingt zu sagen, daß es der Zeitung an
„Reklamationen" seitens der Leitung das „Freien Bundes"
nicht gefehlt hat. Wo gäbe es einen Redner, der sich in
einem Zeitungsbericht richtig gewürdigt sieht, wo einen Ver-

anstalter, der sich für seine Tätigkeit genügend gelobt fin-
det? Im Bemühen um Objektivität gegenüber dem Vortragen-
den sind wir vor allen Dingen dem Leser verantwortlich, auf
dessen Ideenwelt und Verstehen einzugehen, die „Volks-
stimme" als Arbeiterblatt zu allererst verpflichtet ist. Wir
sind und bleiben uns bewußt, daß die Arbeiterschaft in der
heutigen Zeit dem Bildungsinstitut nur insoweit Inter-
esse haben kann, als es Kunstbetrachtung in popu-
lärer, nicht abstrakter und nicht gegenwarts-
ferner Form vermittelt. Maßgebend für unsere Bericht-
erstatutng ist, ob der Durchschnittshörer verstehen und ob
der Durchschnittsleser, der nicht im Vortrag war, den Inhalt
begreifen kann. Darum lehnen wir die überspannte und
überschätzende Kunstbetrachtung ab, die keine Beziehung
mehr haben kann zu den Massen und zu den Bedrückten.
Aber es muß doch auch gesagt werden, daß es sich ver-
lohnt, sich über die Last des Alltags und das schwierige
Schicksal zu erheben; hierzu ist das Sichversenken in die
Kunst und ihre Geschichte ein Mittel. Man kommt dabei zu
Vergleichen, die auch für das gegenwärtige, persönliche
Leben eine Waffe oder eine Stütze sein können.
Von dem feurigen Beginn der „Akademie für Jedermann"
ist jetzt als milder Auslauf eine auf neue Grundlagen ge-
stellte Einrichtung geblieben, deren Form beeinflußt wurde
von anderen in Mannheim aufgetretenen Bildungsinstituten,
u. a.' der Volkshochschule. Der „Freie Bund" ist in das
ehrbare Alter getreten, er wird „honorig", eine Feststellung,
die seinen Wert nicht herabsetzt. Der „Freie Bund" zieht
nicht mehr die Massen an, v/ie bei seiner enthusiastisch be-
grüßten Geburt, weil die Massen bei ihrer heutigen wirt-
schaftlichen Situation nicht mehr ein so starkes Interesse für
die Kunst aufbringen können wie damals. Aus einer demo-
kratischen Einrichtung wird eine aristokratische für die Ge-
bildeten. Trotzdem kann er unter den in dem diesjährigen
Rückblick über das Wintersemester angegebenen Voraus-
setzungen (Nr. 89) eine wichtige und wertvolle Bildungsstätte
sein, die wir auch weiterhin zu fördern bemüht sein werden,
wenn sie Fühlung behält mit den Menschen, für die die
„Akademie für Jedermann" gegründet war: das Volk.
Als ausgesprochenes Partei- und Weltanschauungsblatt be-
gnügt sich die „Volksstimme" niemals damit, kritiklos zu be-
richten, sondern sie nimmt Stellung zu den Dingen. So war
das Entstehen der Volkshochschule, die vor zwei Jahren sich
aus dem früheren Volksbildungsverein entwickelte, begleitet
von einer Diskussion über die Frage: Braucht der Arbeiter
eine Volkshochschule? In dieser Diskussion kam die Ansicht
zum Ausdruck, daß auf einer Volkshochschule nur „bürger-
liche" Bildung bezogen werden könne, die den Arbeiter
nichts angehe. Es wurde also über die Alternative ge-
schrieben: bürgerliche oder Arbeiterbildung?
Bildung im eigentlichen und tieferen Sinne kann nicht
klassenmäßig gebunden sein, es ist dies immer nur die Aus-
lese, die von irgendeiner Bildungsinstituton getroffen, und
die den Hörern unter bestimmtem Klassen-Gesichtswinkel vor-
gesetzt wird. Der Arbeiter erstrebt die universelle Bil-
dung, die gleicherweise zusammengetragen wird aus den
Erkenntnissen und Ergebnissen seiner Klassenlage, sowie aus
dem unveränderlichen und unveräußerlichen Bestand der
übernommenen Kultur- und Bildungswerte.
Es ist somit notwendig, daß Partei und Gewerkschaften
dem politisch erwachten Arbeitnehmer das geistige Rüstzeug
zur Aenderung seiner Lage verschaffen, aber das genügt

allein noch nicht zur Umformung der Gesellschaft. Wir müs-
sen tiefer schürfen nach den Kulturwerten und uns an dem
geistigen Gut der Jahrhunderte orientieren, damit wir über
das eigene Leben hinauszublicken imstande sind. Auch die
auf diesem Weg gewonnenen Werte kommen dem Kampf
der Arbeiterklasse um ein menschenwürdiges Dasein zugute.
Wir müssen daher sagen: Wir brauchen Klassenbildung und
allgemeine Bildung; daraus folgt die Bejahung der Volks-
hochschule und der von Partei und Gewerkschaften ver-
anstalteten Bildungsbestrebungen.
Bejahung der Volkshochschule aber nur dann, wenn sie
die zu vermittelnden Werte unter dem angedeuteten Ge-
sichtspunkt der Beziehung zur zukunftsträchtigen Gegenwart
auswählt. Von der Mannheimer Volkshochschule unter der
Leitung von Dr. Paul Eppstein kann man das bis jetzt
sagen. Daß sie nicht eine ästhetische Bildungsangelegenheit
ist, zeigt der Zulauf, den sie aus allen Schichten gehabt hat.
Ihr Erfolg hat die durch die Entwicklung bedingte latente
Krise des „Freien Bjndes" offenbar gemacht. Zwar nicht mit
dem gleichen Temperamentsüberschwang wie die Gründung
des „Freien Bundes" im Jahre 1911, aber doch mit einem
sichtlichen inneren Zwang wandten sich Arbeitnehmerschich-
ten den Vorträgen der Volkshochschule zu, in denen sie ein
ihnen durch Beruf, Lebenskampf oder politische Fragestellung
nahegelegtes persönliches Interesse gestillt sahen. Die Ar-
beiter sind im Augenblick noch in der Minderheit; es wäre
ein unverzeihliche! Fehler, würden sie sich dieser Möglich-
keit, ihre geistigen Kampfmittel am Stand der bürgerlichen
Bildung zu prüfen, begeben.
Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß dadurch, daß man objek-
tive Vorträge über eine bekämpfte und als schädlich er-
kannte Sache anhört, der Kampfgeist geschwächt würde.
Das Gegenteil wird der Fall sein. Die Waffen, die Quellen,
die Gedankenwege des Gegners zu erkennen, stärkt die
eigene Stellung Die Besorgnis in Arbeiterkreisen, daß der
Bezug der auf einer Volkshochschule vermittelten „bürger-
lichen Bildung" schwächend wirke, ist wohl nur bei Per-
sonen angebracht, die auch bei der nächstbesten Gelegen-
heit ihre Klassenzugehörigkeit verleugnen und mit fliegenden
Fahnen in die vorher bekämpften bürgerlichen Reihen ein-
ziehen. Gerade heute, wo der Arbeiter zum Aufstieg präde-
stiniert ist, muß er sich frühzeitig mit der Denkweise und
den Gepflogenheiten der „höheren" Schicht vertraut machen.
Nur dann wird man dem proletarischen Bewußtsein treu
bleiben, auch wenn hierfür nicht mehr eine wirtschaftliche
Notlage dazu zwingen sollte. Schließlich ist dies Sache des
Charakters. Wo man eine Verwässerung der Ueber-
zeugung zu fürchten hat, wenn man allgemeine Bildungs-
fragen erörtert, kann es mit der Ueberzeugung nicht zum
besten bestellt sein.
Es ist zu wünschen, daß sich die Mannheimer Ar-
beiterschaft um die Volkshochschulebemüht.
Die Tendenzen der Leitung sind der sozialistischen Sache —
in dem angedeuteten großen Rahmen einer Veränderung und
Verbesserung der Gesellschaft — günstig. Das bewußte und
durch falsche Parolen hervorgerufene Fernbleiben — wo es
durch Existenzdruck geschieht, ist kein Wort dagegen zu
sagen, — des Arbeiters von der Volkshochschule wäre ein
verhängnisvoller Fehler. Es ist nicht nur Pflicht, den Leiter in
seinen Bestrebungen zu stützen, sondern es gilt 4m eigenen
Interesse der Mannheimer Volkshochschule das Gesicht zu
geben, das die Arbeiter in einer Arbeiterstadt von ihr
wünschen.

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G 3, 1 ~ Dlt6 ~ Schweizlngerslr. 64
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