DER MÜNCHENER JUGENDSTIL
Der Historismus hat noch verhängnisvoller auf das künstlerische Gewerbe als auf
die Malerei eingewirkt. Zu den schlimmsten Entartungen war es im letzten Jahr-
hundertviertel gekommen. Formerfindung und Herstellung wurden derart auf-
gespalten, daß sie nichts mehr voneinander wußten. Die Erkenntnisse der Kunst-
wissenschaft und die Praxis der Akademien lieferten Anregungen und Vorbilder;
die Industrien mit ihren Maschinen führten sie aus. Materialfremdeste Ideen wur-
den von der Maschine dem Stoff aufgezwungen.
»Das Schwierigste und Mühsamste erreicht sie spielend mit ihren von der Wissen-
schaft erborgten Mitteln: der härteste Porphyr und Granit schneidet sich wie Kreide,
poliert sich wie Wachs, das Elfenbein wird weich gemacht und in Formen gedrückt.
Die Maschine näht, strickt, stickt, schnitzt, malt, greift tief ein in das Gebiet der
menschlichen Kunst und beschämt jede menschliche Geschicklichkeit.« (Gottfried
Semper: Wissenschaft, Industrie und Kunst, Braunschweig 1852, S. 9f.)
Ahnungsvoll sah Semper die Krankheit der Zeit und ihren Ablauf voraus.
In dieses furchtbare Durcheinander von »Bahnhofsgotik«, »Bankbarock«, »Renais-
sancezimmern«, »Rokokoboudoirs«, von »Makartbouquets« und »maurischen
Ampeln« tritt in fast jedem europäischen Lande eine Schar von Künstlern, die den
Aufbruch einer neuen Kunst proklamiert. In England, wo der Genesungsprozeß
zuerst einsetzte, war es der Neugotiker August Welby Pugin (1812-1852). Theore-
tisch fordert er die Zurückführung der Ornamentik und gerade wieder der gotischen
auf die Natur. Er folgerte, daß das Ornament aus der Beobachtung der wachsenden
Pflanze entstanden sei. (August Welby, Northmore Pugin, Freiburg 1877.) Dieses
war zunächst eine Theorie im Sinne des Historismus.
Auch im hellasfreudigen München wurde das Manifest Maximilians II. »Zur Er-
langung eines neuen Styles« 1851 nicht überhört.
Und im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts rühren sich schon bedeutende Kräfte im
»Isarathen«, die den Aufbruch zur neuen Kunst anregen und fördern.
Eine ausgesprochen Münchenerische Leistung sind die in ihrer Klarheit eigenartig
anmutsvollen Möbel von Franz Stuck, die 1895 entstanden und auf der Weltaus-
stellung 1900 zu Paris mit der goldenen Medaille ausgezeichnet wurden.
Über den Klassizismus hinaus wird Werkgerechtigkeit zum Erlebnis. Konstruktive
Elemente herrschen vor, sie kommen der Gestalt des menschlichen Körpers und sei-
nen Bedürfnissen entgegen. Jetzt wird Kunst verstanden als etwas, was den ganzen
Menschen, ja sogar das ganze gesellschaftliche Leben angeht. Wie die Gesinnung
hellenischer Werkleute jeden Gegenstand des Gebrauchs, alle Arbeit ihrer Hände
zu adeln vermochte, so sollte es wieder sein.
Auch auf anderen Gebieten rührten sich neue Kräfte. So ist zum Beispiel um 1900
in Deutschland das Zentrum des guten Plakates in München zu suchen.
Die Entartung
der
Stilnaehahmung
Die Erneuerung
Möbel
Franz von
Studts
Abb. 984
13
Jugendstil j 149
Der Historismus hat noch verhängnisvoller auf das künstlerische Gewerbe als auf
die Malerei eingewirkt. Zu den schlimmsten Entartungen war es im letzten Jahr-
hundertviertel gekommen. Formerfindung und Herstellung wurden derart auf-
gespalten, daß sie nichts mehr voneinander wußten. Die Erkenntnisse der Kunst-
wissenschaft und die Praxis der Akademien lieferten Anregungen und Vorbilder;
die Industrien mit ihren Maschinen führten sie aus. Materialfremdeste Ideen wur-
den von der Maschine dem Stoff aufgezwungen.
»Das Schwierigste und Mühsamste erreicht sie spielend mit ihren von der Wissen-
schaft erborgten Mitteln: der härteste Porphyr und Granit schneidet sich wie Kreide,
poliert sich wie Wachs, das Elfenbein wird weich gemacht und in Formen gedrückt.
Die Maschine näht, strickt, stickt, schnitzt, malt, greift tief ein in das Gebiet der
menschlichen Kunst und beschämt jede menschliche Geschicklichkeit.« (Gottfried
Semper: Wissenschaft, Industrie und Kunst, Braunschweig 1852, S. 9f.)
Ahnungsvoll sah Semper die Krankheit der Zeit und ihren Ablauf voraus.
In dieses furchtbare Durcheinander von »Bahnhofsgotik«, »Bankbarock«, »Renais-
sancezimmern«, »Rokokoboudoirs«, von »Makartbouquets« und »maurischen
Ampeln« tritt in fast jedem europäischen Lande eine Schar von Künstlern, die den
Aufbruch einer neuen Kunst proklamiert. In England, wo der Genesungsprozeß
zuerst einsetzte, war es der Neugotiker August Welby Pugin (1812-1852). Theore-
tisch fordert er die Zurückführung der Ornamentik und gerade wieder der gotischen
auf die Natur. Er folgerte, daß das Ornament aus der Beobachtung der wachsenden
Pflanze entstanden sei. (August Welby, Northmore Pugin, Freiburg 1877.) Dieses
war zunächst eine Theorie im Sinne des Historismus.
Auch im hellasfreudigen München wurde das Manifest Maximilians II. »Zur Er-
langung eines neuen Styles« 1851 nicht überhört.
Und im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts rühren sich schon bedeutende Kräfte im
»Isarathen«, die den Aufbruch zur neuen Kunst anregen und fördern.
Eine ausgesprochen Münchenerische Leistung sind die in ihrer Klarheit eigenartig
anmutsvollen Möbel von Franz Stuck, die 1895 entstanden und auf der Weltaus-
stellung 1900 zu Paris mit der goldenen Medaille ausgezeichnet wurden.
Über den Klassizismus hinaus wird Werkgerechtigkeit zum Erlebnis. Konstruktive
Elemente herrschen vor, sie kommen der Gestalt des menschlichen Körpers und sei-
nen Bedürfnissen entgegen. Jetzt wird Kunst verstanden als etwas, was den ganzen
Menschen, ja sogar das ganze gesellschaftliche Leben angeht. Wie die Gesinnung
hellenischer Werkleute jeden Gegenstand des Gebrauchs, alle Arbeit ihrer Hände
zu adeln vermochte, so sollte es wieder sein.
Auch auf anderen Gebieten rührten sich neue Kräfte. So ist zum Beispiel um 1900
in Deutschland das Zentrum des guten Plakates in München zu suchen.
Die Entartung
der
Stilnaehahmung
Die Erneuerung
Möbel
Franz von
Studts
Abb. 984
13
Jugendstil j 149