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WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN

sich selbst überlassene junge Künstler mehr, einen
Entwurf von einem Haufen zusammengestellter Fi-
guren zu machen, als eine einzige völlig auszuführen.
Da nun das Wenige, mehr oder geringer, den Unter-
schied unter Künstlern macht, und das wenige Un-
merkliche ein Vorwurf denkender empfindlicher Ge-
schöpfe ist, das Viele und Handgreifliche aber schlaffe
Sinne und einen stumpfen Verstand beschäftigt, so
wird der Künstler, der Klugen zu gefallen sich be-
gnügt, im Einzelnen groß und im Wiederholten und
Bekannten mannigfaltig und denkend erscheinen
können. Ich rede hier wie aus dem Munde des Alter-
tums. Dieses lehren die Werke der Alten, und es
würde ihnen ähnlich geschrieben und gebildet wer-
den, wenn ihre Schriften wie ihre Bilder betrachtet
und untersucht würden.

Der Stolz in dem Gesichte des Apollo äußert sich
vornehmlich in dem Kinn und in der Unterlippe,
der Zorn in den Nüstern seiner Nase, und die Ver-
achtung in der Öffnung des Mundes. Auf den übri-
gen Teilen dieses göttlichen Hauptes wohnen die
Grazien, und die Schönheit bleibt bei der Empfin-
dung unvermischt und rein, wie die Sonne, deren
Bild er ist. Im Laokoon siehst du bei dem Schmerz
den Unmut, wie über ein unwürdiges Leiden, in
dem Krausen der Nase, und das väterliche Mitleiden
auf den Augäpfeln wie einen trüben Duft schwim-
men. Diese Schönheiten in einem einzigen Drucke
sind wie ein Bild in einem Worte bei Homer, nur
der kann sie finden, welcher sie kennt. Glaube ge-
wiß, daß der Alten Künstler sowie ihrer Weisen Ab-

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