WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN
versetzte Pflanze, die sich verschieden vom ersten
Boden zeigt.
Nachmachen, ohne zu denken, ist, eine Madonna
von Maratta, einen H. Joseph von Barocci, und
andere Figuren anderswoher nehmen und ein Ganzes
machen, wie eine große Menge Altarblätter auch in
Rom sind. Nachmachen nenne ich ferner, gleich-
sam nach einem gewissen Formular arbeiten, ohne
selbst zu wissen, daß man nicht denkt. Von diesem
Schlage ist derjenige, welcher für einen Prinzen die
Vermählung der Psyche, die ihm vorgeschrieben
wurde, verfertigte. Er hatte vermutlich keine andere
gesehen, als die von RafFael in der Farnesina, die
seinige könnte auch eine Königin aus Saba sein. Die
meisten letzten großen Statuen der Heiligen in
St. Peter zu Rom sind von dieser Art: große Stücke
Marmor, welche ungearbeitet jedes 500 Skudi kosten.
Wer eine sieht, hat sie alle gesehen.
Das zweite Augenmerk bei Betrachtung der Werke
der Kunst soll die Schönheit sein. Der höchste
Vorwurf der Kunst für denkende Menschen ist der
Mensch, oder nur dessen äußere Fläche, und diese
ist für den Künstler so schwer auszuforschen, wie von
den Weisen das Innere desselben, und das Schwerste
ist, was es nicht scheint, die Schönheit, weil sie,
eigentlich zu reden, nicht unter Zahl und Maß fällt.
Ebendaher ist das Verständnis des Verhältnisses des
Ganzen, die Wissenschaft von Gebeinen und Mus-
keln nicht so schwer und allgemeiner als die Kennt-
nis des Schönen, und wenn auch das Schöne, welches
man wünscht und sucht, durch einen allgemeinen
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versetzte Pflanze, die sich verschieden vom ersten
Boden zeigt.
Nachmachen, ohne zu denken, ist, eine Madonna
von Maratta, einen H. Joseph von Barocci, und
andere Figuren anderswoher nehmen und ein Ganzes
machen, wie eine große Menge Altarblätter auch in
Rom sind. Nachmachen nenne ich ferner, gleich-
sam nach einem gewissen Formular arbeiten, ohne
selbst zu wissen, daß man nicht denkt. Von diesem
Schlage ist derjenige, welcher für einen Prinzen die
Vermählung der Psyche, die ihm vorgeschrieben
wurde, verfertigte. Er hatte vermutlich keine andere
gesehen, als die von RafFael in der Farnesina, die
seinige könnte auch eine Königin aus Saba sein. Die
meisten letzten großen Statuen der Heiligen in
St. Peter zu Rom sind von dieser Art: große Stücke
Marmor, welche ungearbeitet jedes 500 Skudi kosten.
Wer eine sieht, hat sie alle gesehen.
Das zweite Augenmerk bei Betrachtung der Werke
der Kunst soll die Schönheit sein. Der höchste
Vorwurf der Kunst für denkende Menschen ist der
Mensch, oder nur dessen äußere Fläche, und diese
ist für den Künstler so schwer auszuforschen, wie von
den Weisen das Innere desselben, und das Schwerste
ist, was es nicht scheint, die Schönheit, weil sie,
eigentlich zu reden, nicht unter Zahl und Maß fällt.
Ebendaher ist das Verständnis des Verhältnisses des
Ganzen, die Wissenschaft von Gebeinen und Mus-
keln nicht so schwer und allgemeiner als die Kennt-
nis des Schönen, und wenn auch das Schöne, welches
man wünscht und sucht, durch einen allgemeinen
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