ÜBER GEGENSTÄNDE DER ALTEN KUNST
in dem Verderbnis neuerer Zeiten ist dieser Teil
rundlich und stumpf vertrieben, und das Kinn ist
insgemein zu kleinlich. Aus dem stumpf gehaltenen
Augenknochen kann man unter anderm urteilen,
daß der berühmte, fälschlich so genannte, Antinous
im Belvedere zu Rom nicht aus der höchsten Zeit
der Kunst sein kann, so wenig wie die Venus. Die-
ses ist, allgemein gesprochen, das Wesentliche der
Schönheit des Gesichts, welches in der Form be-
steht. Die Züge und Reizungen, welche dieselbe er-
höhen, sind die Grazie, von welcher besonders zu
handeln ist.
Eine männliche Figur hat ihre Schönheit wie eine
jugendliche. Aber da alles einfache Mannigfaltige in
allen Dingen schwerer ist, als das Mannigfaltige an
sich, so ist ebendeswegen, eine schöne jugendliche
Figur groß zu zeichnen (ich verstehe in dem mög-
lichen Grade der Vollkommenheit), das Schwerste.
Die Überzeugung ist für alle Menschen auch von
dem Kopfe allein. Nehmt das Gesicht der schönsten
Figur in neueren Gemälden, so werdet ihr fast allezeit
eine Person kennen, die schöner ist. Ich urteile nach
Rom und Florenz, wo die schönsten Gemälde sind.
Ist ein Künstler mit persönlicher Schönheit, mit
Empfindung des Schönen, mit Geist und Kenntnis
des Altertums begabt gewesen, so war es Raffael,
und dennoch stehen seine Schönheiten unter dem
Schönsten in der Natur. Ich kenne Personen, die
schöner sind, als seine unvergleichliche Madonna im
Palast Pitti zu Florenz, und als Alkibiades in der
Schule von Athen. Die Madonna des Correggio ist
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in dem Verderbnis neuerer Zeiten ist dieser Teil
rundlich und stumpf vertrieben, und das Kinn ist
insgemein zu kleinlich. Aus dem stumpf gehaltenen
Augenknochen kann man unter anderm urteilen,
daß der berühmte, fälschlich so genannte, Antinous
im Belvedere zu Rom nicht aus der höchsten Zeit
der Kunst sein kann, so wenig wie die Venus. Die-
ses ist, allgemein gesprochen, das Wesentliche der
Schönheit des Gesichts, welches in der Form be-
steht. Die Züge und Reizungen, welche dieselbe er-
höhen, sind die Grazie, von welcher besonders zu
handeln ist.
Eine männliche Figur hat ihre Schönheit wie eine
jugendliche. Aber da alles einfache Mannigfaltige in
allen Dingen schwerer ist, als das Mannigfaltige an
sich, so ist ebendeswegen, eine schöne jugendliche
Figur groß zu zeichnen (ich verstehe in dem mög-
lichen Grade der Vollkommenheit), das Schwerste.
Die Überzeugung ist für alle Menschen auch von
dem Kopfe allein. Nehmt das Gesicht der schönsten
Figur in neueren Gemälden, so werdet ihr fast allezeit
eine Person kennen, die schöner ist. Ich urteile nach
Rom und Florenz, wo die schönsten Gemälde sind.
Ist ein Künstler mit persönlicher Schönheit, mit
Empfindung des Schönen, mit Geist und Kenntnis
des Altertums begabt gewesen, so war es Raffael,
und dennoch stehen seine Schönheiten unter dem
Schönsten in der Natur. Ich kenne Personen, die
schöner sind, als seine unvergleichliche Madonna im
Palast Pitti zu Florenz, und als Alkibiades in der
Schule von Athen. Die Madonna des Correggio ist
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