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WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN

und würde ohne Lehre und Unterricht leer und tot
bleiben. Folglich hat diese Abhandlung zwei Stücke,
diese natürliche Fähigkeit überhaupt, und den Unter-
richt in derselben.

Die Fähigkeit der Empfindung des Schönen hat
der Himmel allen vernünftigen Geschöpfen, aber in
sehr verschiedenem Grade, gegeben. Die meisten
sind wie die leichten Teile, welche ohne Unterschied
von einem geriebenen elektrischen Körper angezogen
werden und bald wiederum abfallen, daher ist ihr
Gefühl kurz, wie der Ton in einer kurzgespannten
Saite. Das Schöne und das Mittelmäßige ist ihnen
gleich willkommen, wie das Verdienst und der Pöbel
bei einem Menschen von ungemessener Höflichkeit.
Bei einigen befindet sich diese Fähigkeit in so geringem
Grade, daß sie in Austeilung derselben von der Na-
tur übergangen zu sein scheinen könnten. Von dieser
Art war ein junger Brite vom ersten Range, welcher
im Wagen nicht einmal ein Zeichen des Lebens und
seines Daseins gab, da ich ihm eine Rede hielt über
die Schönheit des Apollo und anderer Statuen der
ersten Klasse. Von einem ähnlichen Grade muß die
Empfindung des Grafen Malvasia, des Verfassers
der Leben der Bolognesischen Maler, gewesen sein.
Dieser Schwätzer nennt den großen Raffael einen
Urbinatischen Hafner, nach der pöbelhaften Sage,
daß dieser Gott der Künstler Gefäße bemalt habe,
welche die Unwissenheit jenseit der Alpen als eine
Seltenheit vorzeigt. Er entblödet sich nicht vorzu-
geben, daß die Carracci sich verdorben haben durch
die Nachahmung des Raffael. Auf solche Menschen

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