Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
VON DER EMPFINDUNG DES SCHÖNEN

aber diese weit feuriger in der Jugend, als im männ-
lichen Alter ist, so soll die Fähigkeit, von welcher
wir reden, zeitig geübt und auf das Schöne geführt
werden, ehe das Alter kommt, in welchem wir uns
entsetzen, zu bekennen, es nicht zu fühlen.
Es ist aber, wenn jemand das Schlechte bewundert,
nicht allezeit zu schließen, daß er die Fähigkeit
dieser Empfindung nicht habe. Denn so wie Kinder,
welchen man zuläßt, alles, was sie anschauen, nahe
vor Augen zu halten, schielen lernen würden, eben-
so kann die Empfindung verwöhnt und unrichtig
werden, wenn die Vorwürfe der ersten betrachten-
den Jahre mittelmäßig oder schlecht gewesen. Ich
erinnere mich, daß Personen von Talent an Orten,
wo die Kunst ihren Sitz nicht nehmen kann, über die
hervorliegenden Adern an den Männerchen in un-
seren alten Domkirchen viel sprachen, um ihren Ge-
schmack zu zeigen. Diese hatten nichts Bessers ge-
sehen, wie die Mailänder, die ihren Dom der Kirche
von St. Peter zu Rom vorziehen.
Das wahre Gefühl des Schönen gleicht einem flüs-
sigen Gipse, welcher über den Kopf des Apollo ge-
gossen wird und denselben in allen Teilen berührt
und umgibt. Der Vorwurf dieses Gefühls ist nicht,
was Trieb, Freundschaft und Gefälligkeit anpreisen,
sondern was der innere feinere Sinn, welcher von
allen Absichten geläutert sein soll, um des Schönen
selbst willen empfindet. Sie werden hier sagen, ich
stimme mit Platonischen Begriffen an, die vielen diese
Empfindung absprechen könnten. Sie wissen aber,
daß man im Lehren, wie in Gesetzen, den höchsten

179
 
Annotationen