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Winckelmann, Johann Joachim; Uhde-Bernays, Hermann [Hrsg.]
J. J. Winckelmanns kleine Schriften und Briefe (Band 1): Kleine Schriften zur Geschichte der Kunst des Altertums — Leipzig, 1925

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https://doi.org/10.11588/diglit.6830#0208
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VON DER EMPFINDUNG DES SCHÖNEN

Schönen in der Kunst folgende Erinnerungen bei:
Man sei vor allen Dingen aufmerksam auf besondere
eigentümliche Gedanken in den Werken der Kunst,
welche zuweilen wie kostbare Perlen in einer Schnur
neben schlechteren stehen und sich unter diesen ver-
lieren können. Unsere Betrachtung sollte anheben
von den Wirkungen des Verstandes, als dem wür-
digsten Teile, auch der Schönheit, und von da her-
untergehen auf die Ausführung. Dieses ist sonder-
lich bei Poussins Werken zu erwähnen, wo das Auge
durch das Kolorit nicht gereizt wird und daher den
vornehmsten Wert derselben übersehen könnte. Er
hat die Worte des Apostels: „Ich habe einen guten
Kampf gekämpft", auf dem Gemälde der letzten
Ölung, durch einen Schild über dem Bette des Ster-
benden dargestellt, auf welchem der Name Christus,
wie auf den alten christlichen Lampen steht; unter
demselben hängt ein Köcher, was auf die Pfeile des
Bösewichts deuten kann. Die Plage des Philister an
heimlichen Orten ist durch zwei Personen ausge-
drückt, welche dem Kranken die Hand reichen und
sich die Nase zuhalten. Ein edler Gedanken ist in
der berühmten Io des Correggio der lechzende Hirsch
am Wasser, aus den Worten des Psalmisten: „Wie
der Hirsch schreit usw." genommen, als ein reines
Bild der Brunst des Jupiter. Denn das Schreien des
Hirsches heißt im Hebräischen zugleich etwas sehn-
lich und brünstig verlangen. Schön gedacht ist der
Fall der ersten Menschen von Domenichino in der
Galerie Colonna: der Allmächtige, von einem Chor
der Engel getragen, hält dem Adam sein Vergehen

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