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WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN

vor. Dieser wirft die Schuld auf die Eva, und Eva
auf die Schlange, welche unter ihr kriecht. Die Fi-
guren sind stufenweise, wie die Handlung ist, und in
einer Kette von hinübergehender Handlung eine auf
die andere gestellt.

Die zweite Erinnerung sei die Beobachtung der
Natur. Die Kunst, als eine Nachahmerin derselben,
soll zur Bildung der Schönheit allezeit das Natürliche
suchen und alles Gewaltsame, soviel möglich ist,
vermeiden, weil selbst die Schönheit im Leben durch
gezwungene Gebärden mißfällig werden kann. Wie-
viel angebrachtes Wissen in einer Schrift einem klaren
und deutlichen Unterrichte weichen muß, so soll es
dort die Kunst der Natur tun, und jene soll nach die-
ser abgewogen werden. Wider diesen Satz haben
große Künstler gehandelt, deren Haupt hier Michel-
angelo ist, der, um sich gelehrt zu zeigen, in den
Figuren der großherzoglichen Gräber, sogar die Un-
anständigkeit derselben übersehen hat. Aus diesem
Grunde soll man keine Schönheit in starken Ver-
kürzungen suchen, denn diese sind wie die ausstudierte
Kürze in des Cartesius Geometrie, und verbergen,
was sichtbar sein sollte. Sie können Beweise sein von
der Fertigkeit im Zeichnen, aber nicht von der Kennt-
nis der Schönheit.

Die dritte Erinnerung betrifft die Ausarbeitung. Da
diese nicht das erste und das höchste Augenmerk sein
kann, so soll man über die Künsteleien in derselben,
wie über Schönheitsflecke, hinsehen, denn hier kön-
nen die Künstler aus Tirol, welche das ganze Vater-
unser erhoben auf einem Kirschkerne geschnitten

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