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Kommentare zu S. 236-425
245,12-16 In andern hat der Himmel... wie im Michael Angelo ... wie im Bernini: zu Bernini vgl. Komm, zu
XIX, 26. - Seine aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnende Haltung zu Michelangelo und Bernini verstellte
W. nicht den Blick für deren außerordentliche kunsthistorische Bedeutung. Sie waren für ihn die bedeutendsten
nachantiken Bildhauer, die jedoch an ihren extremen künstlerischen Einstellungen scheiterten, so habe
Michelangelo durch seinen Rationalismus keinen Zugang zur jugendlichen Aktfigur gefunden. Schon in den
Gedancken heißt es: „Michael Angelo ist vielleicht der einzige, von dem man sagen könnte, daß er das Alterthum
erreicht; aber nur in starcken musculösen Figuren, in Cörpern aus der Helden-Zeit; nicht in zärtlich jugendlichen,
nicht in weiblichen Figuren, welche unter der Hand zu Amazonen geworden sind.“ {KS S. 39). Zu Michelangelo
vgl. Nachlaß Paris vol. 57 p. 248; vol. 62 p. 2-3v, 8-8v , 22, 24, 43-44v, 60v; vol. 67 p. 53; vol. 68 p. 60; vol.
70 p. 23v. - Bernini dagegen wird durch seinen naturalistischen Sensualismus für W. zum „Kunstverderber“
{Betrachtung = KS S. 152) schlechthin. Daß der führende Bildhauer des röm. Barock „ein Mann von großem
Falent und Geiste“ {Grazie S. 21 = KS S. 161) gewesen war, wollte W. nicht in Abrede stellen, fand auch lobende
Worte für das frühe Schaffen des Künstlers - die im Alter von 18 Jahren ausgeführte Apollo- und Daphne-Gruppe
(1622-1624) bezeichnete er als „wunderbares Werk für ein solches Alter“ {Grazie S. 22 = KS S. 161), durch den
„verderbten Geschmack“ {Grazie S. 22 = KS S. 162) seiner Zeit sei er jedoch nicht der idealischen Schönheit der
Griechen, sondern der „gemeinen Natur“ gefolgt. Bernini sei „einer von denen gewesen, die den Griechen den
Vorzug einer theils schönen Natur, theils Idealischen Schönheit ihrer Figuren hat streitig machen wollen. Er war
ausserdem der Meynung, daß die Natur allen ihren Fheilen das erforderlich Schöne zu geben wisse. “ {Gedancken
S. 11 = KS S. 36-37) Die Fixierung auf das Einzelne und Besondere brachte nach W.s Überzeugung die formale
Gestalt in Widerspruch zu den Sujets. Berninis Werke entbehrten dadurch der Grazie, jenes „eigentümlichen
Verhältniß[es] der handelnden Person zur Handlung“ {Grazie S. 15 = KS S. 158), weil das Individuelle in ihnen
übertrieben worden sei. Als Beispiel nannte W. die linke Figur, eine „ Caritas“, am Grabmal Urbans VIII. (Rom,
St. Peter), an der er „viel widersprechende Dinge“ feststellte {Grazie S. 18 = KS S. 159). Die Stimmigkeit von
Ausdruck und Handlung, wie sie die Antike gekannt hatte, legte W. als Maßstab auch der neueren Kunst seit dem
15. Jh. an. Bernini sei die „Grazie nicht einmal im Fraum erschienen“ {Grazie S. 21 = KS S. 161); s. dazu auch
Sendschreiben Gedanken {= KS S. 71, 76-77), Erläuterung {= KS S. 109, 119), Abhandlung (für Berg) = KS S. 218,
226. Während Bernini als Architekt günstiger beurteilt wurde, haben W.s Injurien gegen dessen bildhauerisches
Werk bis weit ins 19. Jh. offene Ohren gefunden. In Abwandlung der Äußerung Poussins über Raffael (vgl. dazu
Baumecker S. 14-15) nennt W. in einem Brief an Berendis {Br. I Nr. 151 S. 235) Bernini den größten Esel unter
den neuzeitlichen Künstlern. Das Bernini-Bild der Dresdner Zeit entbehrte noch weitgehend der Anschauung,
in Rom hatte W. jedoch sämtliche Hauptwerke des Künstlers - wie auch die Michelangelos - vor Augen, so daß
an seiner inneren Überzeugung kein Zweifel bestehen kann; sein Wissen über Bernini bezog W. v. a. aus der
Biographie Filippo Baldinuccis (Vita del Cavaliere Gio. Lorenzo Bernino, Scultore, Architetto e Pittore, Florenz
1682; Exzerpte im Nachlaß Paris vol. 61, 25v, 26; vol. 62, 45; Tibal S. 104, 108).
Lit.: Baumecker S. 115ff.; Luise Weicker, Die Bewertung Berninis in Deutschland im Wandel der Zeiten, Diss. Köln 1957; Michael Maek-
Gerard, Die Antike in der Kunsttheorie des 18. Jhs., in: Forschungen zur Villa Albani, hrsg. von Herbert Beck, Peter C. Boi, Berlin 1982;
Daniel Aebli, Winckelmanns Entwicklungslogik der Kunst, Frankfurt am Main 1991 S. 228-237.
245,17-18 wie man aus seinen ... Gedichten sieht: Rime di Michel Agnolo Buonarroti il Vecchio con una lezione
di Benedetto Varchi e due di Mario Guiducci sopra di esse (di Gennaro Gianelli) in Firenze 1726. WA IV S. 262
Anm. 149 wird eine kurze bewundernde Interpretation der Gedichte geliefert und speziell auf die folgenden
verwiesen: „non ha; persa per gli occhi; ben posson gli occhi; sento d’un freddo aspetto un fuoco acceso; de nel
volto; il mio refugio; col fuoco il fabro; mentre i begli occhi giri. - Rehm in: KS S. 422 (zu 161,15), geht näher auf
die Gedichte, auch ungedruckte Strophen auf einem Blatt aus der Sammlung Stosch (zur Sammlung vgl. Komm,
zu 433,15), ein.
245,20-21 im Gebäude, in der Handlung und in den Geberden: DWB belegt mit diesem und anderen Beispielen
aus W. die bildliche Verwendung des Wortes ,Gebäude‘ bei W. - Rehm (a. O.) erklärt das Wort im Sinne von
Körpergerüst. Zeller S. 73 bemerkt: „Vor Winckelmann bezeichnet Gebäude nur künstlich aufgeführte Bauten.
Erst bei ihm wird es zur Bezeichnung für das ,Aufrechte, zugleich klar und prächtig Gegliederte des menschlichen
Leibes‘ (Konrad Kraus, Winckelmann und Homer. Mit Benutzung der Hamburger Homer-Ausschreibungen
Winckelmanns, Berlin 1935 S. 75-76 mit Bezug auf griech. Sspac;)“.
Lit.: DWB IV Sp. 1657; Zeller S. 73-74; Koch, Winckelmann S. 92-93; Rehm in: KS S. 428 (zu 170,26); Herkulanische Schriften II Komm,
zu 17,30.
Kommentare zu S. 236-425
245,12-16 In andern hat der Himmel... wie im Michael Angelo ... wie im Bernini: zu Bernini vgl. Komm, zu
XIX, 26. - Seine aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnende Haltung zu Michelangelo und Bernini verstellte
W. nicht den Blick für deren außerordentliche kunsthistorische Bedeutung. Sie waren für ihn die bedeutendsten
nachantiken Bildhauer, die jedoch an ihren extremen künstlerischen Einstellungen scheiterten, so habe
Michelangelo durch seinen Rationalismus keinen Zugang zur jugendlichen Aktfigur gefunden. Schon in den
Gedancken heißt es: „Michael Angelo ist vielleicht der einzige, von dem man sagen könnte, daß er das Alterthum
erreicht; aber nur in starcken musculösen Figuren, in Cörpern aus der Helden-Zeit; nicht in zärtlich jugendlichen,
nicht in weiblichen Figuren, welche unter der Hand zu Amazonen geworden sind.“ {KS S. 39). Zu Michelangelo
vgl. Nachlaß Paris vol. 57 p. 248; vol. 62 p. 2-3v, 8-8v , 22, 24, 43-44v, 60v; vol. 67 p. 53; vol. 68 p. 60; vol.
70 p. 23v. - Bernini dagegen wird durch seinen naturalistischen Sensualismus für W. zum „Kunstverderber“
{Betrachtung = KS S. 152) schlechthin. Daß der führende Bildhauer des röm. Barock „ein Mann von großem
Falent und Geiste“ {Grazie S. 21 = KS S. 161) gewesen war, wollte W. nicht in Abrede stellen, fand auch lobende
Worte für das frühe Schaffen des Künstlers - die im Alter von 18 Jahren ausgeführte Apollo- und Daphne-Gruppe
(1622-1624) bezeichnete er als „wunderbares Werk für ein solches Alter“ {Grazie S. 22 = KS S. 161), durch den
„verderbten Geschmack“ {Grazie S. 22 = KS S. 162) seiner Zeit sei er jedoch nicht der idealischen Schönheit der
Griechen, sondern der „gemeinen Natur“ gefolgt. Bernini sei „einer von denen gewesen, die den Griechen den
Vorzug einer theils schönen Natur, theils Idealischen Schönheit ihrer Figuren hat streitig machen wollen. Er war
ausserdem der Meynung, daß die Natur allen ihren Fheilen das erforderlich Schöne zu geben wisse. “ {Gedancken
S. 11 = KS S. 36-37) Die Fixierung auf das Einzelne und Besondere brachte nach W.s Überzeugung die formale
Gestalt in Widerspruch zu den Sujets. Berninis Werke entbehrten dadurch der Grazie, jenes „eigentümlichen
Verhältniß[es] der handelnden Person zur Handlung“ {Grazie S. 15 = KS S. 158), weil das Individuelle in ihnen
übertrieben worden sei. Als Beispiel nannte W. die linke Figur, eine „ Caritas“, am Grabmal Urbans VIII. (Rom,
St. Peter), an der er „viel widersprechende Dinge“ feststellte {Grazie S. 18 = KS S. 159). Die Stimmigkeit von
Ausdruck und Handlung, wie sie die Antike gekannt hatte, legte W. als Maßstab auch der neueren Kunst seit dem
15. Jh. an. Bernini sei die „Grazie nicht einmal im Fraum erschienen“ {Grazie S. 21 = KS S. 161); s. dazu auch
Sendschreiben Gedanken {= KS S. 71, 76-77), Erläuterung {= KS S. 109, 119), Abhandlung (für Berg) = KS S. 218,
226. Während Bernini als Architekt günstiger beurteilt wurde, haben W.s Injurien gegen dessen bildhauerisches
Werk bis weit ins 19. Jh. offene Ohren gefunden. In Abwandlung der Äußerung Poussins über Raffael (vgl. dazu
Baumecker S. 14-15) nennt W. in einem Brief an Berendis {Br. I Nr. 151 S. 235) Bernini den größten Esel unter
den neuzeitlichen Künstlern. Das Bernini-Bild der Dresdner Zeit entbehrte noch weitgehend der Anschauung,
in Rom hatte W. jedoch sämtliche Hauptwerke des Künstlers - wie auch die Michelangelos - vor Augen, so daß
an seiner inneren Überzeugung kein Zweifel bestehen kann; sein Wissen über Bernini bezog W. v. a. aus der
Biographie Filippo Baldinuccis (Vita del Cavaliere Gio. Lorenzo Bernino, Scultore, Architetto e Pittore, Florenz
1682; Exzerpte im Nachlaß Paris vol. 61, 25v, 26; vol. 62, 45; Tibal S. 104, 108).
Lit.: Baumecker S. 115ff.; Luise Weicker, Die Bewertung Berninis in Deutschland im Wandel der Zeiten, Diss. Köln 1957; Michael Maek-
Gerard, Die Antike in der Kunsttheorie des 18. Jhs., in: Forschungen zur Villa Albani, hrsg. von Herbert Beck, Peter C. Boi, Berlin 1982;
Daniel Aebli, Winckelmanns Entwicklungslogik der Kunst, Frankfurt am Main 1991 S. 228-237.
245,17-18 wie man aus seinen ... Gedichten sieht: Rime di Michel Agnolo Buonarroti il Vecchio con una lezione
di Benedetto Varchi e due di Mario Guiducci sopra di esse (di Gennaro Gianelli) in Firenze 1726. WA IV S. 262
Anm. 149 wird eine kurze bewundernde Interpretation der Gedichte geliefert und speziell auf die folgenden
verwiesen: „non ha; persa per gli occhi; ben posson gli occhi; sento d’un freddo aspetto un fuoco acceso; de nel
volto; il mio refugio; col fuoco il fabro; mentre i begli occhi giri. - Rehm in: KS S. 422 (zu 161,15), geht näher auf
die Gedichte, auch ungedruckte Strophen auf einem Blatt aus der Sammlung Stosch (zur Sammlung vgl. Komm,
zu 433,15), ein.
245,20-21 im Gebäude, in der Handlung und in den Geberden: DWB belegt mit diesem und anderen Beispielen
aus W. die bildliche Verwendung des Wortes ,Gebäude‘ bei W. - Rehm (a. O.) erklärt das Wort im Sinne von
Körpergerüst. Zeller S. 73 bemerkt: „Vor Winckelmann bezeichnet Gebäude nur künstlich aufgeführte Bauten.
Erst bei ihm wird es zur Bezeichnung für das ,Aufrechte, zugleich klar und prächtig Gegliederte des menschlichen
Leibes‘ (Konrad Kraus, Winckelmann und Homer. Mit Benutzung der Hamburger Homer-Ausschreibungen
Winckelmanns, Berlin 1935 S. 75-76 mit Bezug auf griech. Sspac;)“.
Lit.: DWB IV Sp. 1657; Zeller S. 73-74; Koch, Winckelmann S. 92-93; Rehm in: KS S. 428 (zu 170,26); Herkulanische Schriften II Komm,
zu 17,30.