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Kommentare zu S. 236-425
vielen Menschen das, was am schönsten erscheint, nehmen und danach vollkommen schöne körperliche Gebilde
schaffen, da es kaum möglich ist, einen Menschen zu finden, an dem alles untadelig ist.
257,32-33 Wenn aber Raphael und Guido: Raffaels Fresko in der Farnesina in Rom zeigt die Nymphe Galathea
und Polyphem; Guido Renis Gemälde in S. Maria delle Concezione in Rom schildert, wie Erzengel Michael
den Satan besiegt, vgl. dazu Rehm in: KS S. 346 (zu 46,1). Ein Brief Raffaels an den Grafen Castiglione enthält
einen von Bellori in seinem Hauptwerk „Le Vite de‘Pittori, Scultori ed Architetti Modern!“, Rom 1672, S. 6-7,
zitierten Passus, der sich auf den künstlerischen Gestaltungsprozeß und das Galathea-Fresko in der Farnesina
in Rom bezieht: „Per dipingere una bella mi bisognerebbe vedere piu belle, ma per essere di belle donne, io mi
servo di una certa idea ehe mi viene in mente.“ Exzerpte im Nachlaß Paris vol. 62 p. 31-32, 52v-54v (Tibal S.
107, 108); Br. III Nr. 937a S. 369. In den Gedancken hatte W. Raffaels Fresko als ein Werk gewürdigt, das nach
dem Vorbild der griech. Künstler aus einem „blos im Verstände“ entworfenen „ Urbild“ entstanden sei {KS S.
34-35). In Betrachtung relativierte er Raffaels Nähe zur Antike, indem er die Frage stellte: „Hätte nicht Raphael,
der sich beklagte, zur Galatee keine würdige Schönheit in der Natur zu finden, die Bildung derselben von den
besten Syracusischen Münzen nehmen können, da die schönsten Statuen außer dem Laocoon zu seiner Zeit noch
nicht entdeckt waren?“ Außerdem stellte W. schon hier fest, daß Raffaels „Schönheiten unter dem Schönsten in
der Natur“ gestanden hätten {KS S. 153-154), ein Urteil, das er in GK noch verschärfte. - Zur Erläuterung seiner
neoplatonischen Kunsttheorie zitierte Bellori in der Einleitung (L’idea del pittore dello scultore e dell’architetto)
zu seinem Viten-Werk auch einen Brief Guido Renis an den Haushofmeister Urbans VIII., geschrieben 1635
anläßlich der Übergabe seines Altarbildes mit dem Erzengel Michael (Rom, Santa Maria della Concezione):
„Vorrei haver havuto pennello Angelico, o forme di Paradiso, per formare l’Arcangelo, e verderlo in Cielo, ma io
non ho potuto salir tant‘alto, ed in vano l’ho cercate in terra. Sieche, ho riguardato in quella forma, ehe nell’Idea
mi sono stabilata. Si trova anche l’idea della bruttezza, ma questa lascio di spiegare nel Demonio, perche lo fuggo
sin col pensiero, ne mi curo di tenerlo a mente“ (Le vite de‘pittori, scultori et architetti modern!, Roma 1672 S.
530). In Abhandlung (für Berg) bezeichnete W. den Kopf des Erzengels als schön, „aber nicht idealisch“ {KS S.
229) und in mehreren Briefen äußerte er die Auffassung, daß Renis Erzengel hinter der Schönheit verschiedener
junger Männer zurückbleibe, die er persönlich gekannt habe und noch kenne {Br. I Nr. 131 S. 234; Nr. 194 S. 315;
Br. II Nr. 375 S. 102, 390; Br. III Nr. 764 S. 170; Nr. 837 S. 266; Nr. 839 S. 267-268, 494; MI I S. XXXIX, LI-LII).
Die WA IV S. 64 bereichert den Text der GK2 um Auszüge aus den genannten Briefen.
Lit.: Heinrich Weizsäcker, Raphaels Galatea im Lichte der antiken Überlieferung, in: Die Antike, 14, 1938 S. 231-242; Ladislao Mittner,
Galatea, in: Dt. Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaften und Geistesgeschichte 27, 1953 S. 555-581; Christof Thoenes, Zu Raffaels
Galatea, in: Festschrift Otto von Simson, Berlin 1977 S. 220-271.
258,1 der Liebsten des Anacreons: Carmen Anacreonteum 16, 13-17 heißt es (in: Carmina Anacreontea, ed.
M. L. West, Leipzig 1984 S. 13): rö pscöcppvov 5e prj pot / SictKOTttE pfjrs picrys, / exstgo 5’, örtcoq EKStvq, / rö
XsXpöörcjOc; cvvocppvv / ßAecpapcov irvv XEÄ.atvijv. („Die Augenbrauen trenn mir nicht / zu scharf, verbinde sie
auch nicht, / nein, mal sie nach der Wirklichkeit: / Die dunklen Bögen gehen / kaum merklich ineinander über.“
Übers.: Dietrich Ebener, Griech. Lyrik, Berlin, Weimar 1976 S. 168). Die „Carmina Anacreontea“ sind nicht von
Anakreon, dem Lyriker aus Teos (6. Jh. v. Chr.) verfaßt worden, sondern eine als Anhang der Anthologia Palatina
überlieferte Sammlung von etwa 60 Trink- und Liebesliedern im Stil des Anakreon. Diese sog. Anakreonteen
wurden in viele Sprachen übers, und zählten bis zur Mitte des 19. Jhs. zu den populärsten antiken Gedichten. Sie
beeindruckten Dichter wie Tasso, Lessing, Goethe u. a. und wurden lange, so auch von W., als echte Werke des
Anakreon angesehen. W. benutzte die Ausgabe: Anacreon Teius Poeta lyricus, summa cura et diligentia ad fidem
etiam veteris manuscripti Vaticani emendatus [...], opera et Studio Josuae Barnes, Cantabrigiae 1705 (2. Aufl.
1721; 3. vermehrte Aufl. Londini 1734). Die hier relevanten Verse finden sich in dem in Deutschland verbliebenen
Heft der handschriftlichen Exzerpte W.s, die aus der Zeit der „Knechtschaft in Seehausen“ (1743-1748) stammen,
das jetzt in Hamburg aufbewahrt wird {Nachlaß Hamburg fol. 151); p. 146a-153a sind die carmina 15, 50, 23,
33, 32, 17, 44, 16, 46, 59, 35, 10 kalligraphisch ab geschrieben; vgl. dazu Kochs, Winckelmanns Studien S. 44-46;
vgl. auch Nachlaß Paris vol. 60 p. 78-79v: Anacreon. Barnesii Notae (Josua Barnes, Anacreon Teius [...] ad fidem
etiam veteris MS. Vaticani emendatius, Londini 1705, Cantabrigii 1721, Londinii 1734, 1742); p. 78v: Notizen zu
Carmen 28 (= 16 ed. West), jedoch ohne v. 13-17.
Lit.: Michael Baumann, Die Anakreonteen in engl. Übers., Heidelberg 1974 S. 9-14; NP I (1996) Sp. 640-641 s. v. Anacreontea (Emmett
Robbins, Anne-Maria Wittke); Sp. 646-549 s. v. Anakreon (Emmett Robbins, Anne-Maria Wittke).
Kommentare zu S. 236-425
vielen Menschen das, was am schönsten erscheint, nehmen und danach vollkommen schöne körperliche Gebilde
schaffen, da es kaum möglich ist, einen Menschen zu finden, an dem alles untadelig ist.
257,32-33 Wenn aber Raphael und Guido: Raffaels Fresko in der Farnesina in Rom zeigt die Nymphe Galathea
und Polyphem; Guido Renis Gemälde in S. Maria delle Concezione in Rom schildert, wie Erzengel Michael
den Satan besiegt, vgl. dazu Rehm in: KS S. 346 (zu 46,1). Ein Brief Raffaels an den Grafen Castiglione enthält
einen von Bellori in seinem Hauptwerk „Le Vite de‘Pittori, Scultori ed Architetti Modern!“, Rom 1672, S. 6-7,
zitierten Passus, der sich auf den künstlerischen Gestaltungsprozeß und das Galathea-Fresko in der Farnesina
in Rom bezieht: „Per dipingere una bella mi bisognerebbe vedere piu belle, ma per essere di belle donne, io mi
servo di una certa idea ehe mi viene in mente.“ Exzerpte im Nachlaß Paris vol. 62 p. 31-32, 52v-54v (Tibal S.
107, 108); Br. III Nr. 937a S. 369. In den Gedancken hatte W. Raffaels Fresko als ein Werk gewürdigt, das nach
dem Vorbild der griech. Künstler aus einem „blos im Verstände“ entworfenen „ Urbild“ entstanden sei {KS S.
34-35). In Betrachtung relativierte er Raffaels Nähe zur Antike, indem er die Frage stellte: „Hätte nicht Raphael,
der sich beklagte, zur Galatee keine würdige Schönheit in der Natur zu finden, die Bildung derselben von den
besten Syracusischen Münzen nehmen können, da die schönsten Statuen außer dem Laocoon zu seiner Zeit noch
nicht entdeckt waren?“ Außerdem stellte W. schon hier fest, daß Raffaels „Schönheiten unter dem Schönsten in
der Natur“ gestanden hätten {KS S. 153-154), ein Urteil, das er in GK noch verschärfte. - Zur Erläuterung seiner
neoplatonischen Kunsttheorie zitierte Bellori in der Einleitung (L’idea del pittore dello scultore e dell’architetto)
zu seinem Viten-Werk auch einen Brief Guido Renis an den Haushofmeister Urbans VIII., geschrieben 1635
anläßlich der Übergabe seines Altarbildes mit dem Erzengel Michael (Rom, Santa Maria della Concezione):
„Vorrei haver havuto pennello Angelico, o forme di Paradiso, per formare l’Arcangelo, e verderlo in Cielo, ma io
non ho potuto salir tant‘alto, ed in vano l’ho cercate in terra. Sieche, ho riguardato in quella forma, ehe nell’Idea
mi sono stabilata. Si trova anche l’idea della bruttezza, ma questa lascio di spiegare nel Demonio, perche lo fuggo
sin col pensiero, ne mi curo di tenerlo a mente“ (Le vite de‘pittori, scultori et architetti modern!, Roma 1672 S.
530). In Abhandlung (für Berg) bezeichnete W. den Kopf des Erzengels als schön, „aber nicht idealisch“ {KS S.
229) und in mehreren Briefen äußerte er die Auffassung, daß Renis Erzengel hinter der Schönheit verschiedener
junger Männer zurückbleibe, die er persönlich gekannt habe und noch kenne {Br. I Nr. 131 S. 234; Nr. 194 S. 315;
Br. II Nr. 375 S. 102, 390; Br. III Nr. 764 S. 170; Nr. 837 S. 266; Nr. 839 S. 267-268, 494; MI I S. XXXIX, LI-LII).
Die WA IV S. 64 bereichert den Text der GK2 um Auszüge aus den genannten Briefen.
Lit.: Heinrich Weizsäcker, Raphaels Galatea im Lichte der antiken Überlieferung, in: Die Antike, 14, 1938 S. 231-242; Ladislao Mittner,
Galatea, in: Dt. Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaften und Geistesgeschichte 27, 1953 S. 555-581; Christof Thoenes, Zu Raffaels
Galatea, in: Festschrift Otto von Simson, Berlin 1977 S. 220-271.
258,1 der Liebsten des Anacreons: Carmen Anacreonteum 16, 13-17 heißt es (in: Carmina Anacreontea, ed.
M. L. West, Leipzig 1984 S. 13): rö pscöcppvov 5e prj pot / SictKOTttE pfjrs picrys, / exstgo 5’, örtcoq EKStvq, / rö
XsXpöörcjOc; cvvocppvv / ßAecpapcov irvv XEÄ.atvijv. („Die Augenbrauen trenn mir nicht / zu scharf, verbinde sie
auch nicht, / nein, mal sie nach der Wirklichkeit: / Die dunklen Bögen gehen / kaum merklich ineinander über.“
Übers.: Dietrich Ebener, Griech. Lyrik, Berlin, Weimar 1976 S. 168). Die „Carmina Anacreontea“ sind nicht von
Anakreon, dem Lyriker aus Teos (6. Jh. v. Chr.) verfaßt worden, sondern eine als Anhang der Anthologia Palatina
überlieferte Sammlung von etwa 60 Trink- und Liebesliedern im Stil des Anakreon. Diese sog. Anakreonteen
wurden in viele Sprachen übers, und zählten bis zur Mitte des 19. Jhs. zu den populärsten antiken Gedichten. Sie
beeindruckten Dichter wie Tasso, Lessing, Goethe u. a. und wurden lange, so auch von W., als echte Werke des
Anakreon angesehen. W. benutzte die Ausgabe: Anacreon Teius Poeta lyricus, summa cura et diligentia ad fidem
etiam veteris manuscripti Vaticani emendatus [...], opera et Studio Josuae Barnes, Cantabrigiae 1705 (2. Aufl.
1721; 3. vermehrte Aufl. Londini 1734). Die hier relevanten Verse finden sich in dem in Deutschland verbliebenen
Heft der handschriftlichen Exzerpte W.s, die aus der Zeit der „Knechtschaft in Seehausen“ (1743-1748) stammen,
das jetzt in Hamburg aufbewahrt wird {Nachlaß Hamburg fol. 151); p. 146a-153a sind die carmina 15, 50, 23,
33, 32, 17, 44, 16, 46, 59, 35, 10 kalligraphisch ab geschrieben; vgl. dazu Kochs, Winckelmanns Studien S. 44-46;
vgl. auch Nachlaß Paris vol. 60 p. 78-79v: Anacreon. Barnesii Notae (Josua Barnes, Anacreon Teius [...] ad fidem
etiam veteris MS. Vaticani emendatius, Londini 1705, Cantabrigii 1721, Londinii 1734, 1742); p. 78v: Notizen zu
Carmen 28 (= 16 ed. West), jedoch ohne v. 13-17.
Lit.: Michael Baumann, Die Anakreonteen in engl. Übers., Heidelberg 1974 S. 9-14; NP I (1996) Sp. 640-641 s. v. Anacreontea (Emmett
Robbins, Anne-Maria Wittke); Sp. 646-549 s. v. Anakreon (Emmett Robbins, Anne-Maria Wittke).