Trattato premiliare [vorläufige Abhandlung] · Kommentar
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Empfindliche Andeutung der Umrisse und das Gezwungene in der Handlung und Stellung.
§. 17. Die unterscheidende Eigenschaft des zweyten Styls der Hetrurischen Künstler ist die empfindliche Andeutung der Umrisse
und das Gezwungene in der Handlung und in der Stellung der Figuren. Beyde Eigenschaften erkennt man mehr in ihren geschnit-
tenen Steinen als in den Werken von Marmor. Da aber jene, und besonders der Tydeus im Stoschischen Museum mit der größten
Ausführlichkeit, deren Steinschneidekunst fähig ist, gearbeitet sind: so können wir unser Urtheil mit größerer Sicherheit durch die
geschnittenen Steine als selbst durch die Marmor-Werke begründen, um so mehr, da von diesen nur kleine erhobene Arbeiten, Altäre
und Brunnen-Mündungen, erhalten sind. In Rücksicht des Hetrurischen Styls kann man also die Statue eines Jünglings von Erz, in
natürlicher Größe, welcher sich in der Gallerie des Groß-Herzogs von Toscana befindet, nicht [60] für ein Werk aus dieser Schule
erklären; denn die Zeichnung zeigt keineswegs eine empfindliche Andeutung der einzelnen Theile, sondern ganz den Charakter der
Griechischen Kunst. Wenn Gori, um diese Statue für eine Hetrurische auszugeben, anführt, daß sie bey Perugia gefunden worden, so
ist dieser Grund nicht haltbar, wie auch die Arbeit der Haare, welche Gori für etwas den Hetrurischen Künstlern Eigenthümliches
ausgiebt, die größte Aehnlichkeit hat mit den Haaren an mehreren bronzenen Köpfen im Herculanischen Museum, und besonders
mit dem Kopfe einer Büste, welche einen jungen Helden vorstellt, und auf welcher der Name des Atheniensischen Künstlers Apollonius
eingestochen ist.
Mangel des Charakters und der Grazie.
$. 18. Aus dem Gesuchten und stark Angedeuteten in der Hetrurischen Zeichnung sind zwey andere Eigenschaften ihrer Figuren
entstanden; daß sie nämlich ohne Charakter und ohne Grazie sind. Dadurch, daß ein gemeinschaftlicher Charakter in allen Figuren
ist, werden sie unbestimmt, und die zu starke Andeutung gleicht einem Syllogismus, welcher, indem er mehr beweißt, als er soll,
nichts beweißt. Und so wie es der schlechteste Charakter eines Menschen ist, gar keinen Charakter zu haben: eben so würde man
die Hetrurischen Figuren, wenn man von ihnen die Attribute wegnähme, oft für etwas ganz anderes, als sie vorstellen, halten, und
also mit vollem Rechte von [61] ihnen sagen können, daß sie ein fehlerhaftes Ansehen haben. Dieses Urtheil über die Zeichnung der
Hetrurier läßt sich durch fast alle Kunst-Denkmale dieses Volks beweisen. An dem runden Altar in dem Capitolinischen Museum ist
Apollo eben so gezwungen und die Formen sind so empfindlich angedeutet als an dem ihm zur Seite stehenden bärigen Mercurius.
Auf dem andern runden Werke erscheint Vulcanus in einem eben so jugendlichen Alter als Apollo, und weder dieser noch jener sind
vom Jupiter und Neptunus, welche sich auf demselben Denkmale befinden, der Idee nach verschieden.
$. 19. Der Mangel der Grazie war schon, wie ich bemerkt habe, ein den Figuren des ersten Hetrurischen Styls eigenthümlicher
Fehler, oder besser gesagt, die Folge roher Unbehülflichkeit. Hingegen den Figuren des zweyten Styls fehlt die Grazie wegen des ge-
sucht Wissenschaftlichen in scharf angedeuteten Umrissen, wegen übelverstandener gesuchter Zierlichkeit der Bewegung, so wie des
Uebertriebenen und Gewaltsamen in den Bewegungen. Die Stellung des Peleus auf der oben angeführten Gemme und die steif-beweg-
ten Hände auf den kurz vorher erwähnten Denkmalen bethätigen diesen gerechten Tadel. Aehnliche Unvollkommenheiten lassen sich
auch in den Werken des Michel Angelo Buonarroti bemerken, wenn man solche mit unpartheyi- [62] sehen Augen betrachtet. Dieser
Künstler, indem er seinen Schülern und der Welt sein tiefes Wissen zeigen wollte, verfiel in Gezwungene, sowohl was die Zeichnung
der Theile, als was die Stellung der Figuren betrijft, besonders der weiblichen, zumal derer auf den Grabmälern des Giuliano und des
Lorenzo Medici in der neuen Sakristey der Kirche St. Lorenzo zu Florenz. Man kann daher sagen, daß diese Figuren, indem sie sich von
dem eigenthümlichen Charakter ihres Geschlechts en fernen, gar keine Charakter haben und deshalb der Anmuth völlig beraubt sind.
Die in kleine krause Locken reihenweise gelegten Haare.
$. 20. Ein anderes Unterscheidungs-Zeichen dieses zweyten wie auch des ersten Styls der Hetrurischen Kunst geben die Haare sowohl
des Haupts als der Schaam, welche in kleine krause Locken reihenweise gelegt sind, gerade aufeben die Art, wie das Haar der Leucothea
und der drey Nymphen auf der oben angeführten erhobenen Arbeit, und wie die Haare des Theseus und des Tydeus.
Eben so gekräuselt sind im Capitolinischen Museum die Haare des Hercules auf einem vierseitigen Altäre, welcher die Vorstellung
der Arbeiten dieses Helden enthält. Auf gleiche Art gebildet sind auch die Haare der Wölfin von Erz im Capitolium, welche den
Romulus und Remus säugt. Vermöge dieses Unterscheidungs-Zeichens und noch wegen [63] anderer Merkmale kann man
dieselbe für ein Werk Hetrurischer Kunst achten, und zwar aus der Zeit, wo die Bildhauerey und die Künste in Rom von
Hetrurischen Künstlern ausgeübt worden. Sie wurde in dem Tempel des Romulus, welcher jetzt dem H. Theodor geweiht ist, am
Fuße des Palatinischen Berges gefunden, und scheint dieselbe zu seyn, welche zur Zeit des Dionysius von Halikarnaßin einem
Tempel unterhalb des Palatinischen Hügels stand, und nach dem Zeugnisse eben dieses Schriftstellers für ein Werk der ältesten
Kunst galt. Da nun Cicero meldet, daß eine Wölfin aus Erz vom Blitze getroffen worden, und da man an der Capitolinischen
Wölfin die offenbare Spur einer solchen Verletzung an dem linken hintern Schenkel bemerkt, so ist es wahrscheinlich, daß
Cicero von dieser habe reden wollen. Eine solche Zeichnung machte es den Hetrurischen Künstlern unmöglich, die Schönheit
nachzubilden.
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Empfindliche Andeutung der Umrisse und das Gezwungene in der Handlung und Stellung.
§. 17. Die unterscheidende Eigenschaft des zweyten Styls der Hetrurischen Künstler ist die empfindliche Andeutung der Umrisse
und das Gezwungene in der Handlung und in der Stellung der Figuren. Beyde Eigenschaften erkennt man mehr in ihren geschnit-
tenen Steinen als in den Werken von Marmor. Da aber jene, und besonders der Tydeus im Stoschischen Museum mit der größten
Ausführlichkeit, deren Steinschneidekunst fähig ist, gearbeitet sind: so können wir unser Urtheil mit größerer Sicherheit durch die
geschnittenen Steine als selbst durch die Marmor-Werke begründen, um so mehr, da von diesen nur kleine erhobene Arbeiten, Altäre
und Brunnen-Mündungen, erhalten sind. In Rücksicht des Hetrurischen Styls kann man also die Statue eines Jünglings von Erz, in
natürlicher Größe, welcher sich in der Gallerie des Groß-Herzogs von Toscana befindet, nicht [60] für ein Werk aus dieser Schule
erklären; denn die Zeichnung zeigt keineswegs eine empfindliche Andeutung der einzelnen Theile, sondern ganz den Charakter der
Griechischen Kunst. Wenn Gori, um diese Statue für eine Hetrurische auszugeben, anführt, daß sie bey Perugia gefunden worden, so
ist dieser Grund nicht haltbar, wie auch die Arbeit der Haare, welche Gori für etwas den Hetrurischen Künstlern Eigenthümliches
ausgiebt, die größte Aehnlichkeit hat mit den Haaren an mehreren bronzenen Köpfen im Herculanischen Museum, und besonders
mit dem Kopfe einer Büste, welche einen jungen Helden vorstellt, und auf welcher der Name des Atheniensischen Künstlers Apollonius
eingestochen ist.
Mangel des Charakters und der Grazie.
$. 18. Aus dem Gesuchten und stark Angedeuteten in der Hetrurischen Zeichnung sind zwey andere Eigenschaften ihrer Figuren
entstanden; daß sie nämlich ohne Charakter und ohne Grazie sind. Dadurch, daß ein gemeinschaftlicher Charakter in allen Figuren
ist, werden sie unbestimmt, und die zu starke Andeutung gleicht einem Syllogismus, welcher, indem er mehr beweißt, als er soll,
nichts beweißt. Und so wie es der schlechteste Charakter eines Menschen ist, gar keinen Charakter zu haben: eben so würde man
die Hetrurischen Figuren, wenn man von ihnen die Attribute wegnähme, oft für etwas ganz anderes, als sie vorstellen, halten, und
also mit vollem Rechte von [61] ihnen sagen können, daß sie ein fehlerhaftes Ansehen haben. Dieses Urtheil über die Zeichnung der
Hetrurier läßt sich durch fast alle Kunst-Denkmale dieses Volks beweisen. An dem runden Altar in dem Capitolinischen Museum ist
Apollo eben so gezwungen und die Formen sind so empfindlich angedeutet als an dem ihm zur Seite stehenden bärigen Mercurius.
Auf dem andern runden Werke erscheint Vulcanus in einem eben so jugendlichen Alter als Apollo, und weder dieser noch jener sind
vom Jupiter und Neptunus, welche sich auf demselben Denkmale befinden, der Idee nach verschieden.
$. 19. Der Mangel der Grazie war schon, wie ich bemerkt habe, ein den Figuren des ersten Hetrurischen Styls eigenthümlicher
Fehler, oder besser gesagt, die Folge roher Unbehülflichkeit. Hingegen den Figuren des zweyten Styls fehlt die Grazie wegen des ge-
sucht Wissenschaftlichen in scharf angedeuteten Umrissen, wegen übelverstandener gesuchter Zierlichkeit der Bewegung, so wie des
Uebertriebenen und Gewaltsamen in den Bewegungen. Die Stellung des Peleus auf der oben angeführten Gemme und die steif-beweg-
ten Hände auf den kurz vorher erwähnten Denkmalen bethätigen diesen gerechten Tadel. Aehnliche Unvollkommenheiten lassen sich
auch in den Werken des Michel Angelo Buonarroti bemerken, wenn man solche mit unpartheyi- [62] sehen Augen betrachtet. Dieser
Künstler, indem er seinen Schülern und der Welt sein tiefes Wissen zeigen wollte, verfiel in Gezwungene, sowohl was die Zeichnung
der Theile, als was die Stellung der Figuren betrijft, besonders der weiblichen, zumal derer auf den Grabmälern des Giuliano und des
Lorenzo Medici in der neuen Sakristey der Kirche St. Lorenzo zu Florenz. Man kann daher sagen, daß diese Figuren, indem sie sich von
dem eigenthümlichen Charakter ihres Geschlechts en fernen, gar keine Charakter haben und deshalb der Anmuth völlig beraubt sind.
Die in kleine krause Locken reihenweise gelegten Haare.
$. 20. Ein anderes Unterscheidungs-Zeichen dieses zweyten wie auch des ersten Styls der Hetrurischen Kunst geben die Haare sowohl
des Haupts als der Schaam, welche in kleine krause Locken reihenweise gelegt sind, gerade aufeben die Art, wie das Haar der Leucothea
und der drey Nymphen auf der oben angeführten erhobenen Arbeit, und wie die Haare des Theseus und des Tydeus.
Eben so gekräuselt sind im Capitolinischen Museum die Haare des Hercules auf einem vierseitigen Altäre, welcher die Vorstellung
der Arbeiten dieses Helden enthält. Auf gleiche Art gebildet sind auch die Haare der Wölfin von Erz im Capitolium, welche den
Romulus und Remus säugt. Vermöge dieses Unterscheidungs-Zeichens und noch wegen [63] anderer Merkmale kann man
dieselbe für ein Werk Hetrurischer Kunst achten, und zwar aus der Zeit, wo die Bildhauerey und die Künste in Rom von
Hetrurischen Künstlern ausgeübt worden. Sie wurde in dem Tempel des Romulus, welcher jetzt dem H. Theodor geweiht ist, am
Fuße des Palatinischen Berges gefunden, und scheint dieselbe zu seyn, welche zur Zeit des Dionysius von Halikarnaßin einem
Tempel unterhalb des Palatinischen Hügels stand, und nach dem Zeugnisse eben dieses Schriftstellers für ein Werk der ältesten
Kunst galt. Da nun Cicero meldet, daß eine Wölfin aus Erz vom Blitze getroffen worden, und da man an der Capitolinischen
Wölfin die offenbare Spur einer solchen Verletzung an dem linken hintern Schenkel bemerkt, so ist es wahrscheinlich, daß
Cicero von dieser habe reden wollen. Eine solche Zeichnung machte es den Hetrurischen Künstlern unmöglich, die Schönheit
nachzubilden.