Trattato premiliare [vorläufige Abhandlung] · Kommentar
105
In den Figuren der Helden.
$. 32. Indem die alten Künstler von den Gottheiten zu Wesen unserer Art fortgingen, in welchen die Leidenschaften die Winde sind,
die das Schijflein unsers Lebens treiben, mit welchen der Dichter segelt, und der Künstler sich erhebt, verfuhren sie in Vorstellung der
Figuren aus der Heldenzeit mit gleich bescheidenem Maaße des Ausdrucks. Die Leidenschaften, welche sich an denselben äußern, sind
allezeit der eigenthümlichen Fassung eines weisen [97] Mannes gemäß, welcher die Aufwallung der Leidenschaften unterdrückt, und
von dem Feuer nur die Funken sehen, das Verborgene aber in ihnen den, welcher es erforschen will, entdecken läßt. In diesen Figuren
aus der Heldenzeit bemerkt man immer einen weisen Mann, welcher zwar bewegt wird, aber nach Art eines Schißes, das durch den
Anker befestigt ist. Weniger ist hier dem Künstler als dem Dichter erlaubt: Dieser kann seine Helden darstellen nach ihren Zeiten, wo
die Leidenschaften nicht durch die Regierung oder durch gekünstelten Wohlstand des Lebens zurückgedrängt und geschwächt waren.
Jener aber, da er das Schönste in den schönsten Bildern wählen muß, ist in Hinsicht der Leidenschaften auf einen gewissen Grad des
Ausdrucks eingeschränkt, welcher der Schönheit nicht nachtheilig werden soll.
Besonders in der Niobe und im Laocoon.
$. 33. Um zu erklären was ich behaupte, weiß ich keine berühmteren und vollkommeneren Beyspiele als die Niobe und den Laocoon,
von welchen das eine ein Bild der Furcht vor dem hereindrohenden Tode, das andere des höchsten Leidens und Schmerzes ist. Sowohl
Niobe die Mutter, als auch ihre Töchter, auf welche Diana ihre tödtlichen Pfeile gerichtet, sind in dieser Todesfurcht, mit übertäubter
und erstarrter Empfindung vorgestellt, wann der gegenwärtige Tod der Seele alles Vermögen zu denken nimmt. Von solcher Todesangst
geben die [98] Dichter ein Bild durch die Verwandlung der Niobe in einen Felsen; daher führte Aeschylus die Niobe stillschwei-
gend auf in einem seiner Trauerspiele. Ein solcher Zustand der Seele, wo Empfindung und Ueberlegung aufhören, und welcher der
Gleichgültigkeit ähnlich ist, verändert keine Züge der Gestalt und der Bildung, und der Künstler konnte in diesem Werke die höchste
Schönheit bilden, so wie er sie gebildet hat: denn Niobe und ihre Töchter sind die höchsten Ideen derselben.
$. 34. In dem Schmerze und dem Leiden des Laocoon, welches in jeder Muskel und Nerve empfindlich wirkt, erscheinet der geprüfte
Geist eines großen Mannes, welcher mit Martern ringt, und den Ausbruch der Empfindung zu unterdrücken und in sich zu ver-
schließen sucht. Er bricht nicht in lautes Geschrey aus, wie Virgilius ihn uns beschreibt, sondern es entsteigen ihm nur bange und stille
Seufzer, welche ihm die Eingeweide zusammenpressen; daher zieht er den Unterleib zurück und seine Brust schwellt empor und hier
sammeln sich die verschlossenen Schmerzen.
$. 35. Man könnte mir die Statue einer betagten Frau im Capitolinischen Museum entgegenstellen, welche, wie man sieht, in großer
Bewegung ist und den Mundgeöjfnet hat, als wollte sie ein lautes Geschrey erheben; besonders wenn man mit mir annähme, daß in
dieser Statue die [99] Hecuba, die Mutter des Hector und zwar in dem Augenblicke abgebildet sey, wo diese Königin dem Astyanax von
den Mauern der Stadt Troja herabstürzen sah. Aber diese Statue, in welcher ich die Hecuba erkannt habe, kann nicht zur Widerlegung
meiner Behauptung angeführt werden; vielmehr bestätigt sie gar sehr meine Meynung und der Künstler wollte, wie es scheint, die
unruhige Gemüthsart dieser Königin ausdrücken, welche ihre Zunge nicht bezähmen konnte und unaufhörlich in Schimpfworte gegen
die Häupter der Griechen aus brach; daher die Fabel von ihrer Verwandlung in einen Hund entstanden ist.
Erklärung des Wortes Ήθος in dem Urtheile des Aristoteles über den Zeuxis
$. 36. Der Ausdruck in Verbindung mit der Handlung ist in dem Wort Ήθος begriffen, und auf das eine sowohl als auf das
andere bezieht sich der Tadel des Artistoteles gegen die Gemählde des berühmten Mahlers Zeuxis, an welchen er aussetzt, daß sie
ohne Ήθος gewesen. Dieses Urtheil ist von den Auslegern dieses Philosophen theils nicht berühret, theils nicht verstanden worden,
wie Franz Junius freymüthig von sich gestehet, und Castelvetro fällt in Verwirrung über das Colorit, welches, wie er glaubt, durch
jenes Wort getadelt werde. Nach meiner Meynung kann dieses Urtheil des Aristoteles in Hinsicht des Zeuxis bequem von demAus-
[100] drucke im engem Verstände genommen, erklärt werden, indem man dem Worte Ήθος, von der menschlichen Figur gebraucht,
die Bedeutung des lateinischen vultus beylegt, so daß der Philosoph von dem Ausdrucke, den man im Gesichte sehen muß, und
von den Merkmalen, durch welche sich auf demselben die Gemüthsbewegungen und Leidenschaften äußern, habe reden wollen.
$. 37. Um den wahren Sinn dieses Worts noch näher zu bestimmen, vergleiche man es mit der Antwort, welche Timomachus, ein
gleichfalls sehr berühmter Mahler Jemandem gab, der die Helena, ein Gemählde des Zeuxis tadeln wollte: “Nimm meine Augen,
sagte er, und Helena “wird dir eine Göttin seyn”. Hieraus scheint zu folgen, daß die Schönheit der Hauptzweck des Zeuxis in
seiner Kunst gewesen, daß er dieser einen Theil des Ausdrucks aufgeopfert, und daß seine Figuren, da seine Absicht war, sie auf
das schönste zu bilden, eben dadurch weniger bedeutend geschienen. Auf der andern Seite kann Aristoteles auch haben sagen
wollen, daß die Gemählde des Zeuxis ohne Handlung gewesen, welches, wie ich schon gesagt habe, gleichfalls in dem Worte Ήθος
liegt, und dieser Tadel wird gemeiniglich gegen alle Werke der Alten von denen erhoben, welche in die schöne Einfalt jener großen
Meister nicht eingeweiht sind. Das Gegentheil von diesem Vorwurf hatte Zeuxis in seiner [101] Penelope gezeigt, in welcher er
nach dem Plinius Mores gemahlt, wo dieser Scribent, wie man offenbar sieht, das Urtheil irgend eines Griechischen Kunstrichters
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In den Figuren der Helden.
$. 32. Indem die alten Künstler von den Gottheiten zu Wesen unserer Art fortgingen, in welchen die Leidenschaften die Winde sind,
die das Schijflein unsers Lebens treiben, mit welchen der Dichter segelt, und der Künstler sich erhebt, verfuhren sie in Vorstellung der
Figuren aus der Heldenzeit mit gleich bescheidenem Maaße des Ausdrucks. Die Leidenschaften, welche sich an denselben äußern, sind
allezeit der eigenthümlichen Fassung eines weisen [97] Mannes gemäß, welcher die Aufwallung der Leidenschaften unterdrückt, und
von dem Feuer nur die Funken sehen, das Verborgene aber in ihnen den, welcher es erforschen will, entdecken läßt. In diesen Figuren
aus der Heldenzeit bemerkt man immer einen weisen Mann, welcher zwar bewegt wird, aber nach Art eines Schißes, das durch den
Anker befestigt ist. Weniger ist hier dem Künstler als dem Dichter erlaubt: Dieser kann seine Helden darstellen nach ihren Zeiten, wo
die Leidenschaften nicht durch die Regierung oder durch gekünstelten Wohlstand des Lebens zurückgedrängt und geschwächt waren.
Jener aber, da er das Schönste in den schönsten Bildern wählen muß, ist in Hinsicht der Leidenschaften auf einen gewissen Grad des
Ausdrucks eingeschränkt, welcher der Schönheit nicht nachtheilig werden soll.
Besonders in der Niobe und im Laocoon.
$. 33. Um zu erklären was ich behaupte, weiß ich keine berühmteren und vollkommeneren Beyspiele als die Niobe und den Laocoon,
von welchen das eine ein Bild der Furcht vor dem hereindrohenden Tode, das andere des höchsten Leidens und Schmerzes ist. Sowohl
Niobe die Mutter, als auch ihre Töchter, auf welche Diana ihre tödtlichen Pfeile gerichtet, sind in dieser Todesfurcht, mit übertäubter
und erstarrter Empfindung vorgestellt, wann der gegenwärtige Tod der Seele alles Vermögen zu denken nimmt. Von solcher Todesangst
geben die [98] Dichter ein Bild durch die Verwandlung der Niobe in einen Felsen; daher führte Aeschylus die Niobe stillschwei-
gend auf in einem seiner Trauerspiele. Ein solcher Zustand der Seele, wo Empfindung und Ueberlegung aufhören, und welcher der
Gleichgültigkeit ähnlich ist, verändert keine Züge der Gestalt und der Bildung, und der Künstler konnte in diesem Werke die höchste
Schönheit bilden, so wie er sie gebildet hat: denn Niobe und ihre Töchter sind die höchsten Ideen derselben.
$. 34. In dem Schmerze und dem Leiden des Laocoon, welches in jeder Muskel und Nerve empfindlich wirkt, erscheinet der geprüfte
Geist eines großen Mannes, welcher mit Martern ringt, und den Ausbruch der Empfindung zu unterdrücken und in sich zu ver-
schließen sucht. Er bricht nicht in lautes Geschrey aus, wie Virgilius ihn uns beschreibt, sondern es entsteigen ihm nur bange und stille
Seufzer, welche ihm die Eingeweide zusammenpressen; daher zieht er den Unterleib zurück und seine Brust schwellt empor und hier
sammeln sich die verschlossenen Schmerzen.
$. 35. Man könnte mir die Statue einer betagten Frau im Capitolinischen Museum entgegenstellen, welche, wie man sieht, in großer
Bewegung ist und den Mundgeöjfnet hat, als wollte sie ein lautes Geschrey erheben; besonders wenn man mit mir annähme, daß in
dieser Statue die [99] Hecuba, die Mutter des Hector und zwar in dem Augenblicke abgebildet sey, wo diese Königin dem Astyanax von
den Mauern der Stadt Troja herabstürzen sah. Aber diese Statue, in welcher ich die Hecuba erkannt habe, kann nicht zur Widerlegung
meiner Behauptung angeführt werden; vielmehr bestätigt sie gar sehr meine Meynung und der Künstler wollte, wie es scheint, die
unruhige Gemüthsart dieser Königin ausdrücken, welche ihre Zunge nicht bezähmen konnte und unaufhörlich in Schimpfworte gegen
die Häupter der Griechen aus brach; daher die Fabel von ihrer Verwandlung in einen Hund entstanden ist.
Erklärung des Wortes Ήθος in dem Urtheile des Aristoteles über den Zeuxis
$. 36. Der Ausdruck in Verbindung mit der Handlung ist in dem Wort Ήθος begriffen, und auf das eine sowohl als auf das
andere bezieht sich der Tadel des Artistoteles gegen die Gemählde des berühmten Mahlers Zeuxis, an welchen er aussetzt, daß sie
ohne Ήθος gewesen. Dieses Urtheil ist von den Auslegern dieses Philosophen theils nicht berühret, theils nicht verstanden worden,
wie Franz Junius freymüthig von sich gestehet, und Castelvetro fällt in Verwirrung über das Colorit, welches, wie er glaubt, durch
jenes Wort getadelt werde. Nach meiner Meynung kann dieses Urtheil des Aristoteles in Hinsicht des Zeuxis bequem von demAus-
[100] drucke im engem Verstände genommen, erklärt werden, indem man dem Worte Ήθος, von der menschlichen Figur gebraucht,
die Bedeutung des lateinischen vultus beylegt, so daß der Philosoph von dem Ausdrucke, den man im Gesichte sehen muß, und
von den Merkmalen, durch welche sich auf demselben die Gemüthsbewegungen und Leidenschaften äußern, habe reden wollen.
$. 37. Um den wahren Sinn dieses Worts noch näher zu bestimmen, vergleiche man es mit der Antwort, welche Timomachus, ein
gleichfalls sehr berühmter Mahler Jemandem gab, der die Helena, ein Gemählde des Zeuxis tadeln wollte: “Nimm meine Augen,
sagte er, und Helena “wird dir eine Göttin seyn”. Hieraus scheint zu folgen, daß die Schönheit der Hauptzweck des Zeuxis in
seiner Kunst gewesen, daß er dieser einen Theil des Ausdrucks aufgeopfert, und daß seine Figuren, da seine Absicht war, sie auf
das schönste zu bilden, eben dadurch weniger bedeutend geschienen. Auf der andern Seite kann Aristoteles auch haben sagen
wollen, daß die Gemählde des Zeuxis ohne Handlung gewesen, welches, wie ich schon gesagt habe, gleichfalls in dem Worte Ήθος
liegt, und dieser Tadel wird gemeiniglich gegen alle Werke der Alten von denen erhoben, welche in die schöne Einfalt jener großen
Meister nicht eingeweiht sind. Das Gegentheil von diesem Vorwurf hatte Zeuxis in seiner [101] Penelope gezeigt, in welcher er
nach dem Plinius Mores gemahlt, wo dieser Scribent, wie man offenbar sieht, das Urtheil irgend eines Griechischen Kunstrichters