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Windelband, Wilhelm
Präludien: Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie — Freiburg i. B. [u.a.], 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.19220#0168
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Großes unö Bedeutendes leisten konnte. Aber für jenes einfache
Lied, in welchem sich Goethe's Gefühl auSsprach, floß in ihm
das Blut zu schwer. Seine ganze Vegabung lag auf der Seite
der gedankenschweren Lyrik, wie sie sich in der antiken Ode
und in dem Pindar'schen Dithyrambus ihre adäquate Form
geschaffen hat. Das elegische Element überwiegt in ihm der-
artig, daß es alle andern zurückdrängt, und seine künstlerische
Form ist eine gewaltige, gedankengetragene, blühende Sprache,
die vielleicht außer Schiller unter den deutschen Dichtern keinem
so zur Verfügung gestanden hat, wie ihm. Ein Reichthum
plastischer Bilder, eine bewunderungswürdige Kühnheit des
Gedankenganges und dabei eine Sicherheit und Geschlossenheit
der Composition machen diese Gedichte Hölderlin's zu einem der
schönsten Schätze in unserer Literatur. Selbst die kürzeren
unter ihnen zeigen eine Kraft der plastischen Gestaltung und
eine Meisterschast der Zusammendrängung, welche in der modernen
Literatur nicht übertroffen worden ist. Dabei sind sie sprach-
lich und rhythmisch von einer geradezu ideälen Formvollendung.
Sie bewegen sich durchgängig in den antiken Maßen; aber die
classifche Form ist hier nicht wie meistens bei modernen Dichtern
ein äußerlich gemachtes und künstlich gefaltetes Kleid, sondern
das natürliche Gewand einer Dichtung, die in ihrem ganzen
Gehalte, in ihrer Sprache und in ihrer Empfindung von antikem
Geiste beseelt ist. Die elegische Stimmung des Dichters tritt
nicht sowol, wie das sonst in der modernen Literatur geschieht,
als eine unmittelbare Schilderung seiner persönlichen Gesühle,
sondern vielmehr in dem Colorit hervor, in welches er die
Anschauungen seiner Phantasie taucht. Darin besteht die wirk-
liche Verwandtschast Hölderlin's mit der Antike, und so bilden
seine Dichtungen in Form und Jnhalt den vollkommensten
Ausdruck davon, daß die antike Bildung ein integrirender Be-
standtheil der unserigen ist und hoffentlich immer bleiben wird.
 
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