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Dürer, Albrecht; Winkler, Friedrich [Oth.]
Die Zeichnungen Albrecht Dürers (Band 1): 1484-1502 — Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft, 1936

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https://doi.org/10.11588/diglit.61954#0026
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XX

EINFÜHRUNG

ginal oder nach einer Photographie — manchmal tut es auch ein elender Rasterdruck — gebildet ha-
ben. Die Rolle, die ehemals der Gipsabguß und Umrisstich zum Schaden der Kunst spielten, haben
heute Photographie und Lichtbild in Kunsterziehung und -forschung übernommen.
Dazu kommt eine Neigung zur Schöngeisterei, die sich nicht in der leicht erkennbaren Form der ober-
oberflächlichen Unterhaltungsliteratur darbietet — obgleich auch sie hinreichend zahlreich vorhanden
ist — sondern in der Verwirklichung jener theoretischen Energie, die schon ein Bismarck als Erb-
übel der Deutschen empfunden, gegen die sich ein Herder in seiner heute zu Unrecht vergessenen
höchst bedeutungsvollen Kritik der Philosophie Kant’s gewendet hat. Die Leidenschaft zur Kunst-
theorie artet in den wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen über Dürer allzu oft in ein pseudo-phi-
losophisches Kauderwelsch und eine weit- und gegenstandsfremde Betrachtungsweise aus, die in an-
deren wissenschaftlichen Disziplinen nicht leicht wiederzufinden sein dürfte. Klarheit der Begriffe,
Reinheit der Sprache und Sauberkeit der Durchführung — diesen Forderungen ist in den Arbeiten
der letzten Jahrzehnte erschreckend häufig nicht Rechnung getragen worden.
Eines der schlimmsten und gefährlichsten Erzeugnisse dieser Art — gefährlich weil es von außeror-
dentlich regsamen und nicht unbegabten Verfassern herrührt — ist das Buch des Ehepaars Tietze
über den jungen Dürer. Als sie ihr Werk verfaßten, taten sie es in der Überzeugung, die scharfsin-
nigste Prüfung des „neunmal gesichteten“ Materials vermöge ihm kein neues Ergebnis abzugewinnen
(Hans Tietze in Friedländer Festschrift 1927 S. 93). Diese oberflächliche, den Stand der Forschung
gründlich verkennende Auffassung wäre kaum so deutlich ausgesprochen worden, wenn Flechsig’s
Buch schon vorgelegen hätte. Zudem tut Hans Tietze, der Verfasser der „Methode der Kunstge-
schichte“, zweifellos eigenhändige Signaturen ohne ein Wort der Erklärung als falsch ab, verschweigt,
daß Blätter, die er Dürer abspricht, von diesem ausführlich beschriftet sind, und was dergleichen Ver-
stöße gegen die Methode sind.
Das Tietzesche Buch ist wohl überall abgelehnt worden. Nur zwei Wiener Fachgenossen des Ehe-
paars kamen zu Hilfe, nachdem sich herausgestellt hatte, wie katastrophal die Aufnahme war. Das
Buch vertritt in unserem Fach eine ziemlich verbreitete Auffassung, der mit der eingangs zitierten
Äußerung Morelli’s Gestalt und Farben mitgeteilt werden sollen. Sie verbindet einen radikalen Pu-
rismus mit der starken Tendenz, überall Einflüsse zu ermitteln. Das Verschweigen der Tietze’schen
Arbeit würde das „Zerreden“ der Dinge fördern, an dem sich viele Fachleute beteiligt haben. Die völ-
lig verständnislose Art, mit der von Tietzes das Künstlerische beurteilt wird, und die dreiste, vernei-
nende Kritik sind durchaus nicht so vereinzelt, wie man glauben sollte, wenn den anderen Arbeiten
auch nicht der schlimme zerstörerische Grundcharakter und die bedenkenlose Flüchtigkeit eignet,
durch die das Tietze’sche Buch geradezu aufreizend wirkt.
Trotz alledem ist die Ansicht des Ehepaars, die sehr bemerkenswerter Weise kein einziges Mal durch
Meinungsverschiedenheiten getrübt ist, oft berücksichtigt worden — allzu oft werden manche viel-
leicht sagen — weil gerade jetzt der Vorwurf zu erwarten ist, Tietzes seien als Juden von der deut-
schen Wissenschaft totgeschwiegen oder nicht genug beachtet worden. Ich empfehle das Buch, weil
es bequem in die Literatur einführt und wie wenige Bücher zu erkennen gibt, wie man’s nicht machen
soll. Im übrigen lautet die Forderung des Tages auf Auslese aus der fast unübersehbar breiten Masse
der Veröffentlichungen.
 
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