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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0037
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Die Franziskanische Dichtung.

29

Von einem Schüler des heiligen Bonaventura, dem
späteren Erzbischof von Canterbury John Peckham
(Johannes Pechamus f 1292) haben wir ein lateinisches
Gedicht in neunzig Strophen, die „Philomele des heili-
gen Bonaventura“, das in seiner Mischung sinnlich-
ekstatischer Liebesglut und verzückten Wundenkultes
ein besonders charakteristisches Muster bildet: Die Seele
erblickt den blutenden Leichnam ihres Bräutigams,
Christi, am Kreuz:

Hoc reclinatorium quoties mon-
stratur
Piae menti, toties ei glutinatur,
Sicut et accipiter totus inescatur
Super carnem rubeam, per quem
revocatur.
Post hoc clamat anima, quasi
dementata:
O reclinatorium caro cruentata
Per tot loca propter me, cur non
vulnerata
Tecum sum? Dum moreris cur
non colligata?
Post haec dulcis anima plus et
plus fervescens
Sensu toto deficit, corpore tabes-
cens,
Jam vix loqui sufficit, sed affectu
cres,cens,
Suo lecto decubat, utpote langues-
cens.
In hoc statu respuit, quidquid est
terrenum
Mundique solatium reputat vene-
num

Und so oft dem frommen Geist
sich gezeigt dies Bette,
Strebt er nur, wie er sich ihm
unauflöslich kette:
Wie den Falk der Köder stets
lockt zur alten Stätte,
Bis auf blutgem Fleische er sich
gesättigt hätte.
Danach schreit die Seele auf, gleich
als wie von Sinnen:
O du Bette, blutger Leib, wieviel
Wunden rinnen
Meinethalb, o könnt mit dir auch
mein Blut von hinnen,
Wenn du stirbst, kann ich mit dir
nicht den Tod gewinnen?
Mehr und mehr erglühend fühlt
ihren Sinn umnachten
Nun die Seele, kann des Leibs
Schwinden nicht mehr achten,
Schon versagt das Wort, doch
wächst ihrer Inbrunst Trachten,
Auf das Bett liegt hingestreckt,
sie in sel’gem Schmachten.
Von sich speit sie alles, was ir-
disch ist und nieder,
Aller Trost der Welt ist ihr mehr
denn Gift zuwider,
 
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