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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0066
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Günther.

Sie mußte über die formelhaft überkommenen Phrasen,
Allegorien und Mythologien hinweg nach dem schlichten,
eigenen Ausdruck suchen. Und wir können diesen
Prozeß, der anfangs bei Günther nicht bewußt, sondern
naiv vor sich ging, deutlich verfolgen. Je rückhaltloser
er sich dem Leben hingibt, je mehr er zu sagen hat,
desto einfacher sagt er’s. Immer in den Momenten, wo
die Gewalt seines Erlebnisses ihn sich selbst entreißt,
wird seine Sprache am schlichtesten, innigsten, über-
zeugendsten, da spricht nicht mehr er, da spricht das
Leben durch ihn hindurch. Und das Leben sucht stets
den einfachsten Ausdruck.
In seiner Gymnasiastenzeit sehen wir ihn noch ganz
im Banne der Gelehrtenpoesie. Insbesondere wirkt einer
seiner Lehrer, der geistliche Liederdichter Benjamin
Schmolcke auf ihn. Er liebt es, alles was er an
biblischen Reminiszenzen besitzt, in sein Gedicht zu
stopfen, oder seine sämtlichen mythologischen Kennt-
nisse in Einer Strophe zu versammeln. Und wo er
feierlich werden will, wird er schwülstig. Ein Gedicht
auf den Tod des Schulinspektors beginnt:
Die Lüfte waffnen sich mit schweren Donnerkeulen,
Der Wolken Schwangerschaft gebiehret Schlag und Glut,
Das Auge dieser Welt zeigt ein Kometen-Blut,
In Sarons Thälern schallt ein allgemeines Heulen.
Aber die Liebe zu Leonore bricht auf und drängt
seine Sprache, tastend nach dem Natürlichen, dem Un-
mittelbaren zu suchen. Sie hat der neueren Lyrik die
ersten großen Liebesgedichte gebracht, zu denen Flem-
mings Gedichte nur ein Vorklang sind. Sie bringt zum
erstenmal jenen Vorgang, der sich nun immer in der
Entwicklung der lyrischen Persönlichkeit wiederholt:
Der Lyriker, der zu seiner Entwicklung der grenzen-
losen Hingabe seiner Persönlichkeit bedarf, findet nur
in der Liebe zu einem weiblichen Ideal die Möglichkeit,
 
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