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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 7.1890

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https://doi.org/10.11588/diglit.15409#0176
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Nr. 114 des „Wahren Jacob" gelangt am 6. Dezember 1890 zur Ausgabe.

812

-«I-- Die Leiter der Londoner Dockarbeiter.

Das große und in der Hauptsache berechtigte Aufsehen, welches die Be-
wegung unter den Londoner Dockarbeitern Überall erregt hat, hat auch den
Führern dieser Bewegung eine weit über die Stätte ihres Wirkens reichende
Berühmtheit verschafft. Die Namen Tom Mann und Ben Tillet sind heut,
man kann sagen, weltbekannt, und es wird daher Vielen erwünscht sein,
etwas Näheres über die beiden Männer zu erfahren, die aus dem Dunkel
eines proletarischen Daseins so schnell zu einer vcrhältuißmäßig einflußreichen
Stellung gelangt sind.

Beide sind, ihrer bisherigen Lebensstellung nach, im vollen Sinne des
Wortes Proletarier, und materiell dürfte ihre Lebenshaltung auch heute die
eines Arbeiters mit Durchschnittseinkommen nicht überschreiten. Beide haben
schon in frühester Jugend den Ernst des Lebens kennen gelernt.

Tom Manu, der jetzt im 35. Lebensjahr steht, ist in Coventry, Graf-
schaft Warwick, als der Sohn eines Schreibers geboren. Kaum zehn Jahre
alt, mußte er die Schule verlassen, um für den Lebensunterhalt zu arbeiten.
Erst schaffte er auf dem Felde, dann, mit elf Jahren, in einem Bergwerk,
in dessen Bureaux sein Vater arbeitete. Achtzehn Monate bekleidete er den
Posten eines „Luftschacht-Burscheu", dessen Amt darin besteht, die Luftschächte
zu reinigen und allen Staub, Gerolle rc. ans denselben zu entfernen — eine
Arbeit, so anstrengend, daß der Knabe oft erschöpft dabei zusammcnbrach.
Nach Verlauf der angegebenen Zeit erhielt Tom Arbeit außerhalb der Grube;
aber bald darauf gerieth das Bergwerk in Brand, und der Vater siedelte
mit der ganzen Familie nach Birmingham über. Dort trat Tom als Lehr-
bursche in eine Wcrkzeugfabrik ein und holte in seinen Freistunden in einer
Handwerkerschulc den bis-
her versäumten Unterricht
nach. Zahlreiche Diplome
bezeugen seinen Fleiß, und
seine Fortschritte lassen sich
am besten dadurch kenn-
zeichnen, daß er bereits nach
Verlauf etlicher Jahre in
einer Sonntagsschnle selbst
als Lehrer fungirte. Auch
trat er schon im Alter von
neunzehn Jahre» in öffent-
lichen Versammlungen auf,
und zwar als Befürworter
der Enthaltsamkeit von allen
alkoholischen Getränken, als
„Teatotaller" (Nichts als
Theetrinker), wie man in
England sagt.

Im Jahre 1877 ver-
ließ Tom Mann Birming-
ham, und nachdem er neun
Monate als Schreiber auf
einem der Londoner Docks
gearbeitet, trat er als

Maschinenbauer in die bekannte Torpedo-Fabrik von Thornehcroft ein,
wo er vier Jahre blieb. Dann wollte er sein Glück in Amerika ver-
suchen und arbeitete eine Zeit laug in, der Zuckerraffinerie von Havemeher
und Eiden in Brooklyn. Er konnte jedoch den beständigen Wechsel von Tag-
und Nachtarbeit nicht vertragen und kehrte nach Ablauf von vier Monaten
in seine frühere Stelle nach London zurück. Aber inzwischen war sein Blick
auf die sozialen Schäden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung gelenkt
worden und bald sehen wir ihn als Organisator und Agitator, zunächst in
seiner Bernfsgewcrkschaft und dann in der aufkommenden sozialistischen Be-
wegung thätig. Als die junge sozialdemokratische Partei sich spaltete, blieb
Tom Mann bei der „Sozialdemokratischen Föderation" und wurde von dieser
1885 zur Agitation nach dem Norden, speziell Northumberland, geschickt, wo
die Bergarbeiter gerade mit ihren Unternehmern in Konflikt lagen. Um
dieselbe Zeit hatte die „Sozialistische Ligue" ihr Mitglied Mahon ebenfalls
zur Agitation nach Northumberland geschickt; statt aber sich gegenseitig zu
bekämpfen und dadurch Einer des Andern Wirken zu neutralisiren, zogen
es Manu und Mahon bald vor, Hand in Hand mit einander zu arbeiten
und versuchten, eine sozialistische Föderation der Arbeiter von Nord-England
zu Staude zu bringen. Wenn das auch auf die Dauer noch nicht gelang,
so ist die Agitation doch nicht fruchtlos geblieben. Manu ließ sich zunächst
in Newcastle nieder, bis er im Anfang 1888 einen Ruf nach Bolton (Lan-
cashire) erhielt, dem er Folge leistete. Im November desselben Jahres
entsandte ihn die 2000 Mitglieder starke Sektion der Vereinigten Metall-
arbeiter in Bolton als ihren Delegirten znm Internationalen Gewerkschafts-
kongreß in London, ein Beweis, welch' geachtete Stellung sich Mann in der
vcrhältuißmäßig kurzen Zeit bereits erworben. Auf dem Kongreß selbst
bildete Mann mit Burns und Keir Hardic den Mittelpunkt der Opposition
gegen die damals noch übermächtige Broadhurst-Shiptou Richtung. Als der
sehr begabte H. H. Champion aus der „Sozialdemokratischen Föderation"
ausschied und den „Labour Elector" gründete, schloß sich Mann ihm au

und siedelte, Anfang 1889, wieder nach London über- Er trat in die
Redaktion des „Labour Elector" ein und fungirte außerdem als Inspektor,
bezw. Agent des „Shop-Hours Regulation Act Committee", eines Konnte,
das gegründet worden, um die Beobachtung der gesetzlichen Vorschriften über
die Arbeitszeit der Ladcnangcstcllten zu überwachen. Daneben agitirte er in
Versammlungen, und als im Sommer 1889 der große Dockerstreik ausbrach,
erging auch an ihn der Ruf, beim Werk der Organisation Hilfe zu leisten.
Mit Einsetzung seiner ganzen Kraft ging er daran, und >vie er mit Burns
und Anderen damals Tag und Nacht bis zur völligen Aufreibung geschafft,
ist allgemein bekannt. Die Docker bewiesen Mann ihre Dankbarkeit dadurch,
daß sie ihn als Organisator mit einem Gehalt von zwei Pfund Sterling
die Woche — das Durchschnittseinkommen eines Mechanikers — anstellten
und später zum Präsidenten ihres Verbandes wählten. Als solcher hat er
auch den jüngst abgehalteucn Dockerkougrcß geleitet.

Ben Tillet, der vier Jahre jünger ist als Mann — er ist 1800 in
Lower Easton bei Bristol geboren — hat ebenfalls schon als Knabe in einem
Bergwerk schaffen müssen. Später arbeitete er eine Zeit lang in einem
Schuhwaarengeschäft, und ging dann, im Alter von vierzehn Jahren, zur
See. Nachdem er zwei Jahre in der Marine und weitere drei Jahre auf
Kauffahrteischiffen thätig gewesen, wurde er des Seelebens müde und nahm
eine Stelle als Küfer in einem großen Theclagerhaus in der Nähe von
London Bridge an. Dort hatte er Gelegenheit, die Verhältnisse der Dock-
arbeiter genau kennen zu lernen, und als im Sommer 1887 in einem Thce-
lagerhaus der London- und St. Katherinedocks eine Lohnrcduktion durch-
geführt werden sollte, gab
dies de» Anlaß zur Gründ-
ung einer Verbindung der
betreffenden Arbeiter unter
dem Namen „Verein der
Theeküfer und Arbeits-
lcute", für den Tillet eine
lebhafte Thätigkcit entfal-
tete und deren Sekretär er
ward. Die Organisation
machte iudcß nur sehr lang-
same Fortschritte, bis der
große Dockerstrcik des Jah-
res 1889 ausbrach, der
indirekt mit eine Frucht
der Agitation von Tillet
und Genossen war. So
war es nur natürlich, daß
Ersterer auch der Sekretär
der neuen, alle Dockarbeiter
umfassenden Organisation
würde.

Tillet ist, wie Mann
und Burns, „Teatotaller".
Die Lücken seiner Erzieh-
ung hat er durch fleißiges Studium nach Feierabend auszufüllen gesucht.
Einen Sozialisten kann mau ihn nicht nennen, er steht vielmehr aus der
äußersten Rechten des „neuen Unionismus". So ist cs z. B. wesentlich
seinem Einfluß zuzuschreiben, daß bei der großen Achtstuudcndemonstration
im Mai d. I. die Dockerorganisation offiziell im Zuge des Tradcs Council
ging, anstatt mit dem Konnte für den gesetzlichen Achtstundentag. In Liver-
pool hat Tillet jedoch, trotzdem er im Mai noch die Ansicht aussprach, man
dürfe die Forderung eines Achtstundeugesetzes nicht in den Vordergrund
schieben, weil nur erst eine kleine Minderheit von Arbeitern dafür gewonnen
sei, für dieselbe gestimmt. Die Mehrheit hat cs ihm angethan.

So nebensächlich diese Thatsache erscheint, so ist sic doch für den Mann.
bezeichnend. Bei aller Achtung vor ihren Leistungen, darf doch nicht ver-
gessen werden, daß die Mann, die Tillet rc. wohl tüchtige und begabte,
aber keineswegs außergewöhnliche Menschen sind, sondern mehr durch die
Verhältnisse zu besonderem Ruf und Ansehen gelangt sind. Im klebrigen
stehen sie nicht höher als eine ganze Reihe von geschulten Arbciterorgauisatoren,
die auf kleinerem Gebiet eben auch ihr Theil zum Werk der Emanzipation der
Arbeiter beitragen. Tillet, das sei noch bemerk, ist bibelglttubig. Er gehört der
Methodistenkirche au und ist erst vor Kurzem als sog. Laicn-Prediger ausgetreten.

Als Volksredner ist Tillet Mann überlegen, obwohl dieser mehr ökono-
misches und sonstiges Wissen hat als er. Aber Mann steht der Volkswitz
nicht so zu Gebote, >vic Tillet, der außerdem selbstbewußter auftritt und
auch der Energischere von Beiden ist. Von dieser Eigenschaft braucht cs
übrigens ein gutes Stück, um das vielgestaltige Element der Dockarbeiter
zusammenzuhalten. Die inneren Konflikte, die Reibereien unter den ver-
schiedenen Arbeitskategorien auf den Docks sind endlose, und die Arbeit und
der Verdruß, den sic für die Leitung zur Folge haben, oft aufreibender als
di- bewegtesten Tage des großen Streiks. Nicht die glorreichen Schlachten,
der Kampf des alltäglichen Lebens erfordert die größte Aufopferung, den
größten Kraftaufwand.

Be» Titlet.

Redaktion. Georg Boßler; Drtilk und Berlog; I. H. W. Dietz, beide in Stuttgart.
 
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