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1211

schaffen, denn missen se sich dazu Eenen aussuchcn, der keene Krampe an'n
Hut hat, dazu is Jotthitf Naucke nu doch nich dämlich jcnug. Denn Wesen
een Paar lausije Scheiben, die injeschlagen werden, da ist noch nie een System
jeändcrt worden, det hat weiter keenen Zweck, als in de janze spießbirjerliche
Welt Jrauel vor de Sozialdemokraten zu errejen, denn det haben se ja nu
fein raus, det se Alles, wat ooch Passirt, jleich uns in de Schuhe schieben.
In Berlin fallen de Leite nu uff den Zauber so leichte nich mehr rin, hier
wissen se janz jeuau, wie der Hase looft, un wenn hier Eener seinen Dußtijen
markiren will, na, den kennen se bcese zu Hause leichten.

Aber, wie jesagt, der Nothstand is ja nu zu Ende, denn der Majistrat
hat die Sache in de Hand jenommen. Nu muß et kommen, oder et kommt
ieberhaupt nich. Der Majistrat, der den janzen Winter durch durch seinen
ersten Vertreter, unser» jlorreichcn Oberbirjermeester, verkindeu ließ, det een
Nothstand ieberhaupt nich existirt, der hat et nu mit eenmal mit de Augst
jekriegt, un nu schmeißt er sich in de Brust, un sagt: Der Majistrat red't
nich ville, er handelt. Na, Singer hat die Herren nich schlecht Bescheid
jestoßen un en Weileken werden se woll dran zu knabbern haben. Aber ick
will ja nischt jesagt haben, denn Forckenbeck, der versiegt über eene Klugheit,
mit die De Berje versetzen, aber leider nich Widder inlösen kannst. Un wat
so die iebrijen Brieder sind, die sind ooch mächtig jedeppt. Nu mit Eenmal
soll et losjehen, nu mechten se et den Arbeeter hinten rinstoppen — natier-
lich, aber kosten darf et nischt. Un de Stadt wird schon vor Arbect sorjen,
da verlaß Dir druff, denn biste verlassen.

Ick bin nu blos neijierig, wie lange die Jeschichte mit det Mitjefiehl
von den Majistrat eijentlich dauern wird. Bei meine langjährije Erfahrung,
die ick mit den Berliner Majistrat jemacht habe, jloobe ick nich mehr an
Jespenster un wenn se jeden Dag hier in Berlin een Paar magnetische
Damen ausstellen un wenn in jeden Theezirkel spiritistische Sitzungen ab-
jehalten werden. Wat ick eenmal jloobe, det jloobe ick feste un lasse mir
von meinen Jlooben ooch so leichte nich abdrängeln. Die janze Sache wird
sich woll so sachte wieder in'n Sand verloofen un mit die majistratliche
Herrlichkeit is et dann aus.

Deibel nich noch Eens, nu hätte ick ja beinahe Widder de Hauptsache
versessen. Nämlich in Berlin is Huudcspcrre, un jede olle Jungfer die siehrt
nu ihren ollen schäbijcn Mops an 'ne Strippe. So sehre wichtig is ja nu
det Faktum eijentlich nich, aber ick wollte Dir blos 'ne kleene Reminiszenz
ufffrischeu. Nämlich, wie wir det vorije Mal hier Hundcsperre hatten, da
war der Altreichskanzler noch an't Ruder un sein jingster Sohn, Bill, der
mußte unter det Volk runtcrsteijen, un mußte in eenen patriotischen
Birjerverein de Berliner inreden, bat die Hundesperre eijentlich schlimmer wäre,
wie dat Sozialistenjesetz. Jott sei Dank hat er Recht jehabt: Sozialisieu-
jesetz un Familie Bismarck is flöten jejangen — aber de Hundesperre is
wieder jekommen. Merkste wat, Jacob? Mit die Frage verbleibe ick wie
jewöhnlich erjebenst und mit ville Jrieße dein treier

Jotthilf Naucke.

An'n Jörlitzer Bahnhof jleich links.

Dem sächsischen Landtag. •#=:•*••

Liebknecht habt ihr ausgepchlosten
Und- habt damit fehlgrschojprn;
Seine Wähler aUrpammt
Habt prm Eifer ihr entflammt.

Wenn rs wieder kommt jitm Wählen,
Mögt ihr drum ench nicht verhehlen:
Als Ersatzmann sicher ist
Wiederum rin Sozialist.

Bald ifl euer Traum zerronnen,

Denn für ench wird nichts gewonnen,
Und nach kurzem Freudenrausch
Bringt den Rater euch der Tausch.

Soziales,

Kommerzienräthin: Da sieh' jenen armen Mann! Nachdem er
seine Wassersuppe gegesseu hat, leckt er noch den Teller und den Löffel ab.

Kommerzienrath: Ja, — das Volk ist schrecklich genuß-
süchtig.

Hovrlspähne.

Der Reichstag ist ein Sämann,

Er geht auf Deutschlands Flur,

Doch seinem Sameustreuen
Folgt keine Segensspur.

Der Reichstag sät nur Schulden,
Bedenklich ist sein Lauf,

Als Frucht gehn nur Fregatten
Utld Bataillone auf.

Fürst Bismarck räsonnirt schon wieder über
seine Absetzung, für tvelche er jetzt sogar den
Stöcker verantwortlich macht. Es ist merkwürdig,
daß ein Mann, welcher fast dreißig Jahre die
Zügel der Regierung in der Hand gehalten
hat, jetzt nicht einmal den eigenen Mund
halten kann.

* *

*

Ein Berliner Blatt machte den Vorschlag, die Eisenbahnverwal-
titng solle die Berliner Arbeitslosen kostenfrei in die Provinz
befördern. Da die Provinzialstädte dann mit demselben Rechte die
kostenfreie Beförderung ihrer Arbeitslosen in die Hauptstadt verlangen
können, so dürfte durch dieses neue sozialreformatorische Verfahren die
Frage der Arbeitslosigkeit gründlich zerfahren werden.

Ihr getreuer Säge, Schreiner.

„Ich — sind sie nicht in Ordnung?" fragte
Balthasar, die Nähte prüfend.

„Die Aermel! die blauen Aermel!" schrie der
Meister.

„Blaue Aermel?" fragte Balthasar. „Das ist
ein stahlgraues Jaquet, warum soll es blaue Aermel
haben?"

„Sind Sie verrückt?"

„Herr Meister, mir scheint — der Respekt ver-
bietet mir" — sagte Balthasar kopfschüttelnd.

In diesem Augenblick trat ein angesehener Kunde
des Meisters, der Stadtverordnete Dickmann, ein,
welcher sich bitter beschwerte.

„Sie haben mir ein Kleidungsstück gesandt,
welches einer Hanswurstjacke ähnlicher sieht, als
einem Frack, und ich versäume deshalb die offizielle
Feierlichkeit an der Brücke, die soeben stattfindet."

Der Meister schlug die Hände über dem Kopfe
zusammen. „Kann ich dafür, wenn meine Leute
verrückt werden? Da, sehen Sie dieses Jaguct!
Welche Farbe hat es?"

„Braun, und die Aermel blau," sagte der
Stadtverordnete.

„Da hören Sie c§!" donnerte der Meister dem
Kleinen zu.

„Bedaure," meinte dieser, „die Herren müssen
farbenblind sein, das Jaquet ist stahlgrün."

Farbenblind? Dem Stadtverordneten ging ein
Licht auf. „Dieser Mann ist selbst farbenblind,
daher die fehlerhaften Zusammenstellungen," sagte
er zu dem Meister.

Das Gespräch wurde durch den Eintritt weiterer
beschwerdeführender Kunden unterbrochen. Es be-
fand sich darunter ein junger Arzt, tvelcher mit
heiterer Miene erklärte, er wolle mit der bewaff-
neten Macht in Frieden leben und verzichte darauf,
in seinem Sommer-Ueberzieher die Aermel eines
Ulanenoffiziers zu tragen.

Der kleine Balthasar schlug jetzt einen kläglichen

Ton an. „Ich merke, der Herr Stadtverordnete hat
Recht. Ich selbst bin farbenblind, die aufreibende
Nachtarbeit und die magere Kost haben mich ruinirt."
Er setzte sich auf einen Stuhl. „Ich melde mich
krank, vielleicht dauernd invalid, und mache den
Meister Ziegenbart für Alles verantwortlich."

Dem Meister war diese Wendung unangenehm.
„Was ist hier zu thun, Herr Doktor?" fragte er
den jungen Arzt, der die ganze Sachlage augen-
scheinlich von der humoristischen Seite aufzufasseu
schien. Indessen antwortete er ganz ernsthaft:

„Fälle von plötzlich aitftrctcuder Farbenbliud-
hcit sind recht gut denkbar. Liegt hier tvirklich un-
gewöhnliche Ueberanstrcngung vor?"

Balthasar beeilte sich, seinen Zustand zu schil-
dern. Seit gestern der Meister die Zulage, die so
dringend gebraucht wurde, abgclehnt und gesagt
habe, die Leute müßten arbeiten, bis ihnen Hören
und Sehen vergehe, da ffimmcvte es ihm so vor
den Augen.

„Reden Sie doch keinen Unsinn! Legen Sie
sich zu Bett!" unterbrach ihn Meister Ziegenbart.

Der Arzt beschäftigte sich mit dem Kleinen, die
Andern umstanden die Gruppe im Kreise. Da wurde
die Thür hastig geöffnet und ein Nachbar erschien
athemlos mit einer Schreckenskunde.

„Die Fest-Tribüne ist eingestürzt, die Leute,
welche sie besetzten, sind sämmtlich itis Wasser ge-
fallen, viele Menschen müssen ertrunken sein!"

Alles war starr vor Entsetzen. „Wie ist das
möglich?" fragte der Stadtverordnete Dickmaiin.

„Der Fluß ist durch Gcbirgswässer über Nacht
augeschwollen und hat aitgenscheinlich die Gruud-
lagen des leichten Holzbaues ins Wanken gebracht."

„Utid ich wäre auf der Tribüne gewesen, wenn
ich meinen Frack richtig erhalten hätte," bemerkte
Dickmann schaudernd.

„Auch ich!" „Auch ich!" bestätigten mehrere
andere Kunden des Meisters.

„Dieser kleine, farbenblinde Manu rettete uns
das Leben," betonte ein alter Herr feierlich, und
übergab Balthasar ein Zwanzigmarkstück als Bei-
trag zur Pflege in seiner Krankheit.

Dem Meister selbst war wunderlich zu Muthe.
Nur der Verdruß mit den Kunden hatte ihn abge-
halten, seinen Platz auf der Fest-Tribüne einzu-
nehnle». Sollte er dafür dem kleinen Balthasar
Dank wissen? Oder hatte der Letztere doch nur
einen boshaften Streich verübt, ohne wirklich farben-
blind zu sein? Da mußte der Arzt Aufschluß geben.

Während der Meister mit dem jungen Medi-
ziner sprach, liefen nähere Nachrichten über den
Unfall an der Brücke ein. Es war gelungen, alle
Betroffenen aus dem Wasser zu retten. Freilich,
an leichteren Verletzungen fehlte es nicht, und die
schönen Sonntagskleider waren gründlich verdorben.
Da gab's wieder Arbeit für die Schneider!

„Und jetzt soll ich gerade den Balthasar, meinen
besten Arbeiter, entbehret,," grollte Ziegenbart. „Wie
lange kann die Krankheit wohl dauern?"

Der Arzt lächelte. „Ich halte den Fall für
leicht; wenn der Patient Schonung und gute Er-
nährung hat, wird er bald wieder im Vollbesitz
seiner Sinne sein."

Balthasar begann wieder: „Es ist so plötzlich
über niich gekommen, als die Zulage abgelehnt
wurde und der Meister gesagt hat-"

Ziegenbart ließ ihn nicht ausreden. „Es ist
gut, die Zulage ^ist hiermit bewilligt mtb von der
Nachtarbeit sind Sie entbunden, aber ich hoffe, daß
Sie recht bald wieder ordentlich sehen lernen."

„O, wenn wir — meine Kollegen und ich —
erst die Zulage sehen, ist niir um das klebrige nicht
mehr bange," betheuerte Balthasar.

Wirklich war er bereits am nächsten Lohntage
von seiner Krankheit genesen und rühmte in der
ganzen Stadt den jungen Arzt, der an ihm eine
Wunderkur verrichtet habe.
 
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