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1259

Berlin, so um Mitte Juni rum.

Lieber Jacob!

So nach un nach kommen wir beede olle Sünder nu so pöh-a-pöh in
de villjeliebte Saurcjurkenzeit rin. Um die Zeit is et wirklich wat Säuberet,
un ick als oller Politiker von Fach, vor den et keen jrößeret Berjniejen jiebt,
als wie den Loos der Welt so an seine Reese vorbeipassiren zu lassen, ick
habe keene jrößere Freide, als wenn ick so um die Zeit de Zeitungen bei mir
jeistig Revue passiven lassen kann. Die Sache von de Seeschlange, die is ja
nu alt, an die jloobt keen Mensch mehr, ooch der Eisenwurm will nich mehr
so recht ziehen, jetzt missen die Reporter schon uff janz wat Änderet verfallen.
Da hatte nämlich bei eene Piekfeine Herrschaft een Dienstmeechen een Zwauzig-
markstick aus Versehen runterjeschluckt. Du kannst Dir ja den Schreck vorstellen,
den die Sache bei die schlechte Zeiten bei alle Freinde un Bekannten von die
Herrschaft hervorrief. Bei alle Doktors liefen se hin, bei beriehmte un
unberiehmte, die ihre Patienten unter Ausschluß der Oeffentlichkeit unter
de Erde bringen — keen Mensch konnte die seltene Minze wieder an bet
Licht des Tages bringen. Nanu war Holland in Nolh. Det Zwanzig-
markstick riefte un richrte sich nich, un wat Er, der Haushaltungsvorstand
war, der fing schon so nach un nach an, sich langsam de Haare auszureißen.
Schließlich, nachdem det arme Meechen Rizinusöl un Bitterwasser un andere
. apptitliche Sachen fuderweise runterjeschluckt hatte, jingen se bei eenen janz jungen
Dokter hin, der aber so schlau war, det er de Bazillen bei Dage niesen
Heerte. Weeßte, wat der machte? Der jab det Meechen een Mittel in, da
kriegte se det Wechselfieber un da jab se zwanzig eenzelne Markstücke von sich.

Seehste, det nenne ick doch wenigstens 'ne Kur, un da kennen sich unsere
Dokters dran wärmen. Aber vor de Saurejurkenzeit is det man een Droppen
uff den Heeßen Steen. Wie wäre et denn, Jacob, wenn Du mal die Nachricht
in de Welt setzen wirdest, dat Liebermann von Sonnenberg oder jar Stöcker
zu det talmudische Judenthum überjetreten is, un det Jeder von die beeden
Ehrenmänner eenen Posten als Portier bei de Synagoge anjenommen Hat?

Usf'n Tempelhofer Feld is Parade, un wenn De vielleicht nich wissen
solltest, lieber Jacob, wo Dein Jeld bleibt, dann kenntest De da mal raus»
jehen un zukieken, dann wirde Dir sofort der nothwendige Seefensieder
uffjehen. Aber bei Eich in Stuttjart werden so woll ooch sonne Jnrich-
tungen haben, un dafor brauchst De nich extra nach Berlin zu kommen. Wat
Eenen hier noch so'n bisken Spaß machen kann, det is der Prozeß Polke,
der draußen in Moabit uffjeführt wurde. An den Jiftboom ruhen, muß
doch zu schön sind; aber wenn Eener, wie ick, mit zu jroße Dämlichkeit
jeschlagen is, dann wirde Eenen det ooch nischt nutzen, denn wenn een armer
Mensch Unjlick haben soll, dann verliert er det Brod aus de Kiepe oder er
fallt hin in'n Jrase, schlagt uff den Ricken un brecht sich de Nase.

In de hohe Politik is nischt von Bedeckung passirt. Der Zar von Ruß-
land hat, wie ick aus det Rixdorfer Kreisblatt ersehe, neilich 'mal wieder seine
unverbriechliche Friedensliebe betheiern lassen un er versichert, det er partuh
keenen Krieg will. Ick jloobe, er hat so bitte ieber seine Verfassung nach-

zudenken, det er vor lauter Nihilisten nich zur Ruhe kommen kann. Du
meine Jiete, als ob wir nich Alle Nihilisten wären. Det Wort „Nihilist,"
lieber Jacob, kommt nämlich aus 't Lateinische, wat frieher de ollen Römer
sprachen. Det Wort „nihil“ uff lateinisch is jrade so bitte werth wie uff
Berlinsch det scheene Wort „nischt." Un wer nischt hat, den nennen se 'n
Nihilisten! Jeht Dir nu een Seefensieder uff? Ick will et hoffen un ick
denke, det Du mir Recht jiebst, wenn ick uns ooch vor Nihilisten in den von
mir anjedeiteten Sinn halte. Det De mir vor meine klassische Bildung be-
sonderen Respekt zollst, verlange ich nich. Bei uns wär'n schon de kleensten
Jungs Leitnants, wie et damit bei Eich in Stuttjart bestellt is, weeß ick
natürlich nich — wir leben aber hier in de Metropole der Jntellijenz. Blas
mir mal den Stoob weg! Blase aber det Forckenbecken dabei nich um, vor
det der Erfinder wegen Abwesenheet keenen Orden mehr kriejen kann, un
lass' ooch den ollen Fritzen stehen!

Mit diesen Wunsch verbleibe ick wie jewehnlich erjebenst un mit ville
Jrieße Dein kreier Jotthils Naucke.

An'n Jörlitzer Bahnhof jleich links.
-»-

Hobrlsxähne.

Das ist die schöne Sommerszeit!

Nun blühen sie wieder, die Rosen;

Nun machen sich die Protzen breit,

Die kleinen und die großen.

Sie schicken ihre. Frau auss Land,

So sagen sie Jedem mit Prahlen;

Sie selber nehmen den Bergstock zur Hand —
Die Arbeiter müssen'« bezahlen.

* *

*

Dem Dreibund kann der Reichsnörgler Bismarck
seine Sympathie nicht ganz versagen, denn dieser
Bund der Drei erinnert ihn an seine drei Haare,
die er sich aus Aerger über seine Absetzung längst
ausgerauft hat. * *

*

Frei ist diePresse in unseren Tagen, — den Redakteur saßt man am Kragen.

* *

4-

Johanni ist der längste Tag,

Er kommt mit Glanz und Gefunkel.

Doch wie er auch strahlen und leuchten mag,

In der Zünftler Köpfen bleibt's dunkel.

Ihr getreuer Säge, Schreiner.

und mehr einbürgert und die andere verdrängt) aus
einem Pfosten, in den ein Querholz rechtwinkelig
eingelassen ist. Der Zarenverehrer wandelt nun,
rechts und links von wackeren Soldaten umgeben,
die der fromme Zar ihm als freundliche Begleiter
auf seinem großen Gange sendet, zu dem stattlichen
Ausbau. Ein muskulöser Mann, der den Altar-
dienst zu versehen hat, erwartet den Gläubigen,
bindet ihm, damit er nicht durch weltliche Gedanken
abgehalten werde, dauernd die Hände zusammen,
verhüllt ihm das Gesicht und führt ihn eine schwanke
Leiter hinauf bis zum Querholz. Diese Leiter ist
ein Sinnbild der Himmelsleiter, auf der Jakob die
Englein sähe auf und nieder steigen und bedeutet,
daß der in der Höhe Säuselnde den Staub der
Welt von den Pantoffeln schüttelt. Damit er nicht
das Gleichgewicht verliert, legt ihm der Priester
eine dreifach gedrehte hänfene Schnur um den Hals,
befestigt diese an einem stählernen Ringe und über-
läßt ihn seinen erbaulichen Gedanken, indem er mit
einem Rucke die Lecker fortzieht. So schwebt der
Gläubige frei im Aether zwischen Himmel und Erde
und sagt sein Lebtag kein Sterbenswörtchen mehr.
Kommt ein Nichtruffe zu solch einer zarendienstlichen
Feier, so hat er erstens vorher zu viel Wudki ge-
trunken, und den kann nur ein Russe vertragen,
zweitens phantasirt er, der Land und Leute, Sitte
und Religion nicht kennt, der Tempel sei ein Schnell-
oder Wippgalgen, und der Verzückte sei ein Ge-
hängter. Und zwar sei er ein politischer Verbrecher.
Die Thorheit dieser Meinung ist sinnenfällig. In
Rußland ist für Jedermann so gut gesorgt, daß
Niemand Politik zu treiben braucht, und politische
Verbrechen sind deshalb ein Unding.

In Rußland wird überhaupt nichts verbrochen.
So z. B. ist der Diebstahl dort etwas Unbekanntes.
Das Verdienst für diese erquickenden Zustände ist
den Tschinowniks, den Beamten, zuzuschreiben.
Nicht etwa, daß sie so viel stehlen, daß für die
Anderen nichts übrig bleibt! Nein, sie sind alt-

bewährte Muster der Ehrlichkeit, der Reinheit des
Sinnes, der Unbestechlichkeit. Jene fressende Ver-
derbniß der Sitte, die in anderen Staaten wuchert,
ist ihnen fremd. Nur leiden sie infolge ihrer kargen
Lebensweise und ihrer erschöpfenden Ueberarbeit an
einer seltsamen Krankheit der Gelenke, die in den
Fingerpartien am schwersten auftritt. Das Leiden
kommt plötzlich und außerordentlich häufig, man kann
sagen täglich, bald stärker, bald schwächer zur Er-
scheinung. Sobald ein Mitglied des Tschin, der
Bureaukratie, Gold, Silber, auch minderwerthige
Metalle, namentlich in geprägter Gestalt erblickt,
oder wenn sein empfindliches Ohr das Rascheln
knisternder Kassenbillete, Koupons oder Dividenden-
scheine vernimmt, bemächtigt sich seiner eine tiefe
Erregung. Die Finger verlängern sich stetig, bis
sie in unmittelbare Nähe jener Werthgegenstände
sind, schließen sich dann jählings mit hörbarem Ruck
in furchtbarem Krampf zusammen, fahren bis in die
Brust- oder Hosentasche, öffnen sich dort Plötzlich
und tauchen leer wieder empor, zitternd und zuckend,
um erst nach einer Weile in den normalen Zustand
zurückzukehren. Dieser Fingerkrampf, der als die
Berufskrankheit der rastlos thätigen, entsagungs-
vollen Beamtenschaft Rußlands zu bezeichnen ist
und die Gesundheit der von ihm Befallenen nach
und nach untergräbt — sie leiden bis zu ihrem
Tode daran — tritt auch auf, wenn der Tschinowuik
mit Lieferanten, Bittstellern, Unternehmern, mit allen
Denen, die irgend etwas von der Regierung erlangen
wollen, zu verhandeln hat. Was aus dem Edelmetall
und dem Papier wird, das der Beamte während des
Anfalls ergreift, ist von den Aerzten noch nicht fest-
gestellt worden. — Diebstahl öffentlicher Gelder und
Bestechungen giebt es daher in Rußland nicht.

Erstaunliche Fortschritte macht in Rußland die
Ausnützung wissenschaftlicher Entdeckungen und vor
Allem die Chemie. Die Praxis des Minenbaus ist
in Rußland so hoch entwickelt, wie nirgends sonst,
und nicht blos die Zöglinge unseres Geniekorps und

die Artillerieoffiziere, nicht bloH die Bergwerks-
und Tunnel-Techniker, nein simple Bauern- und
Popensöhne, Hebammen, Studentinnen besitzen eine
Fertigkeit in dieser Kunst, die bewundernswerth ist.
Heimlich, Um dann desto größeres Aussehen zu
machen, treiben sie mit den unscheinbarsten und
schwächsten Mitteln die unterirdischen Gänge, füllen
sie mit Sprengstoffen und sind bescheiden genug,
wenn die väterliche Polizei sie einmal bei der Ar-
beit aufsucht, lieber sich eine Kugel vor den Kops
zu schießen,, ehe sie aus ihrer Verborgenheit und
Anonymität, heraustreten. Auch die Erzeugung
und Verarbeitung von Sprengstoffen ist eine russische
Hausindustrie,, und es ist nur eine Folge des Hasses
unserer Nachbarn, wenn sie von Terrorismus,
Attentaten und Nihilisten flunkern. So etwas giebt
es in Rußland nicht und wird es, allen Heiligen sei
Dank, nie geben, so lange der Himmel groß und der

Zum Gefängnitzwesen.

A. : Wie geht es zu, daß trotz der angeblich
milderen Behandlung politischer Gefangener zu-
weilen ein sozialdemokratischer Redakteur dem Ge-
richte mit Stricken gefesselt vorgeführt wird.

B. : Na, mit'was soll man die Sozialdemokraten
anders fesseln, als mit Stricken, nachdem sie sich
durch die Versprechungen der Sozialresorm
absolut nicht fesseln lassen.

Nus dem Parteilebrn.
Sozialist: Heda, Kutscher! Fahren Sie mich'
nach P l ö tz e n s e e!

Kutscher (am Ziele): Soll ich gleich ans Ihre
Rückfahrt warten?

Sozialist: Wenn Ihnen die Zeit nicht lang wird.
Kutscher: Wie lange kann's denn dauern?
Sozialist: Genau sechs Monate.
 
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