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1290

Wie in einem Spiegel.

Mnkking die Wolga nimmt es seinen Gang,

Aich! Greis noch Rind verschont das schwarze bleröen,
Und tieine Ehrfurcht Kennt vor btand »nd Rang
Das unanshatlsam schreitende verderben.

Es hemmt im Morgenthau des bchnilters Lauf
Den armen Fischer trifst's im schwanken Rahne,

Und ülw Leichenhngeln pflanzt es auf
In höhnischem Triumph die schwarze Zahne.

Wohl ist das schlimm, doch was euch schaudern macht,
Ist die Verblendung erst, die kann, zu sahen,

Der finstre, sinnlos schreckliche verdacht,

Der furchtbar gährt in den entsetzten Massen.

Sie glauben nicht, daß es die beuche fei,

Die all' das Elend, all' das Sterüe» stifte —

Durch aller blödle Gaste» hallt der bchrci,

Daß man das Volk iittf vorbedacht vergifte.

Und die Verzweiflung hat nur eine Wahl:
bie schleppt die Rrankcn, bleibende» und Todten
Aus den, mif blurm gcnomm'nen Hospital
Und schlägt mit Rniilteln jeden Arzt zu Boden.
5o reiße» nieder sie den letzten Damm,
bo wehren sie den Rranken, zu genesen!
bind Thiere sic? sind sie von Adams btauu»,
vernnnstkegakte, einsichtsvolle Wesen?'

Doch — seid ihr bester, die ihr jahrelang
Mit hohn und hast die Aerzte überschüttet,

Die hemmen wollen des Verderbens Gang,

Das schleichend der Gesellschaft Leib zerrüttet?
Gewunden habt ihr euch in wilden Weh»,
Gesuhlt de» lähmenden verfall der Brüste,

Doch auch den Grund beharrlich ubersehn:
hier Ueberschuß und Mangel dort der baste.

habt ihr den Helfern knirschend nicht geflucht,

Wenn euch die Dual, die bohrende, gepeinigt?
habt ihr sie nicht mit Wuthgeheul gesucht
Und, wie der Pöbel Astrachans, gesteinigt?

War euch als bohn der Hölle nicht verhaßt,

Den euch der Menschheit guter Geist gelendet?
hat wilder Taumel nicht auch euch erfaßt?

War't, bis zum Wahnsinn, nicht auch ihr verblendet?

Das inn're biechlhum hat euch wild gemacht;

Ihr müßt gestehn, befragt ihr das Gewissen,

Daß nach der Hand, die Heilung euch gebracht
Auch ihr geschlagen habt, sogar gebissen.

Und müßteArzt ich sein am Wolgastrand,

Daser» ich nicht zum schweren Amt mich stähle,
Das heil zu künden meinem Vaterland —

Ich ivürde überlegen, was ich wähle. n. r.

Eijcntlich wollte ick Dir fronzccsch schreiben, indem jetzt nämlich hier
soville von Paris nn de Weltausstellung de Rede is, un ick halte mir Dir
doch jar zu jerne mal in den Jlanz meiner jesammten Bildung jezeigt.
Ick hätte et ooch wirklich jedahn, ick wußte blos nich, luie ick in richtijet
Franzeesch Deine Adresse schreiben sollte. Non eher Jacques vrai —
hätte am Ende keen eenziger Pariser vor „mein lieber wahrer Jacob"
jehalten, un so werde ick man bei mein jeliebtet Deitsch un mein noch
jeliebteret Berlinisch bleiben, denn in die beede Sprachen kann ick mir
nämlich am besten über bet Wcltausstellnngsprojekt ausschweijen. Natürlich,
den Platz hätten ivir ja dazu, wir sind uns blos noch »ich schlüssig, wo.
Entweder in'n Jrunewald, wenn jrade keene Holzauktion is, oder in
Treptower Park. Wenn se wenigstens een kleenet bischen vernünftig waren,

denn theilten se de Ausstellung in zwee Hälsten, damit Jeder wat hat, un
wenn die halben Ausstellungen denn lange jenng uff eenen Fleck jestanden
hätten, denn wechselten se damit um, lvomit ick jloobe, det alle jerechten
Anspriche damit befriedigt wären. Aber nach mir un meine vernünftijen
Borschläge heert keen Mensch, nn jrob werden möchte ick doch ooch nich
jerne bei jeder Jelejenheit. Also lass' se machen, wat se wollen, ick bin mit
Alles zufrieden, ick jloobe blos nich, det se in Berlin eenen Platz finden,
der jroß jenng wäre, det se darufs unseren Dalles ansstellcn kennten. Un
der is doch jewiß schenswerth, mindestens so sehr wie Ahlwardt. Denke
Dir doch blos, Jacob, der Kerl, der Ahlwardt hat sich wirklich mit den
Jedanken jedrajen, det er mal Minister werden kennte. Heilijer Brimborius
von Treienbrietzen, wat müßte denn Alles aus mir un meine Talente
jeworden sein, wenn sowat möglich wäre. Ick jloobe son hohen Posten
jiebt et uff de Welt ieberhaupt nich, den ick denn hätte bekleiden missen.

«XD Zweierlei Maß. »>«

lietz in Untersuchungshaft
Uns brummen lange Wochen
Und hat uns, bleich und ohne Uraft,
Am Ende — freigefxrochen.

Inzwischen war wie Sxreu im wind,
Uns das Geschäft verdorben;

Zuweilen waren Weib und Rind
Auch unterdeß gestorben.

Zerstoben war die letzte bjab' —

Da hietz es, sich ermannen;

Man griff im Grimm zum Wanderstab
Und trollte sich von dannen.

Raum Liner wahrte da den Schein,

Lin Beileidswort zu stammeln,

Und keiner Seele siel es ein,

Ltwa für uns zu sammeln,

Damit für uns sich G^tz n.kkd Blein
Lrwärmt in alle»'. Landen,

Mutz man durchaus ein Jude sein.

SinMarterer von Lauten "

Der Zuq der Mütter.

Es war in Berlin am Sonntag den
3. Juli 1892. Zum ersten Mal waren die gesetz-
lichen Vorschriften in Kraft getreten, die für eine
große Zahj von Betrieben die Sonntagsruhe ein-
sührten. Wohlwollend glänzte die Sonne, ein
seichter Wind spielte in den duftenden Lindenwipfeln,
Zehntausende, ledig des drückenden Joches, eilten
ins Grüne.

Die Kremser rasselten, die Stadtbahn warf un-
gezählte Massen von Ausflügler» an die sandigen
Gestade des Wannsees, und eitel Lust und Freude
herrschte überall.

Derweil huschte auf Katzenpfoten der böse Geist
des Zwistes und der inneren Zerrüttung durch die
engen Gassen und die asphaltirten Straßen, lugte
scharfäugig nach rechts und links, schlüpfte hier
hinein und dort heraus, glitt durch Thürspalten
und schob sich behende durch Schlüssellöcher. Wo
eine Wiege stand oder wo ein Ein-, ein Zwei-
jähriger hüpfend im Gitterbette rumorte, machte er
Halt und grinste teuflisch. In die entlegensten
Kammern, wo die liebende Mutter den zappelnden
Säugling mit sichern Händen über jenes nützliche
Gefäß hielt, das Keiner missen kann und Jeder
scheu verbirgt, trat ungesehen der unheimliche Gast.
Wo ahnungslos das Kindlein am Wickelbande
spielte, gedankenschwer den Schnuller saugend, ängst-
lich von der Wärterin bewacht, wo das stämmige
Bübchen ain buntfarbigen Gummischaf leckte, überall
schlich er sich ein. Unheil säete er und Verderbe:;.
Wo er weilte, wuchs das Unkraut des Grolls und
der Unzusriedenheii, das jeden: Freunde der Ord-
nung ein Greuel ist. Nach gethaner Arbeit flog
das dämonische Scheusal über die unruhige, fiebernde
Weltstadt. Zwischen ragenden Schlöten und rauchen-
den Essen, die, ein hängender Garten aus Stein,
sich in die dünne, bläuliche Lust reckten, fuhr er
dahin, und zehn alte Frauen können beschwören,
daß es um die Siegessäule heftig nach Schwefel
gerochen.

Derweilen wurde cs Mittag, sengend war die
Gluth der Sonne, und Mensch wie Thier ver-
schmachteten beinahe. Hurtig eilte der friedliche
Bürger in die schützende Frische der Weißbierstube,
vorbei an schlafenden Droschkengäulen, an schwitzen-
den Jünglingen, die ihren Damen Mantel, Korb
und Tasche trugen. Die Luft war gewitterschwül,
das nahende Berhängniß lag wie ein Alp auf der

Stadt. Und zwei Uhr schlng's, die Ladenthüren
schlossen sich, die Rollläden rutschten kreischend in
ihrer Ungeöltheit quietschendem Gefühle herunter,
die Sonntagsruhe war endgiltig da. Besorgt
schauten die Hausfrauen aus ihre Speisevorräthe,
die der böse Einfluß der Hitze bedrohte. Und aus
tausenden und abertausende::, aus Myriaden von
Kinderkehlen erscholl nun der fistelnde, schrille,
Mark und Bein durchdringende, messerscharfe, alles
übertönende, den Stärksten betäubende Hungcrschrei.
Milch war die Losung.

Milch, aber es war heiß, sehr heiß. Und die
kluge Mutter, die brave Schwester sie hatten für-
sorglich nur für den Morgenbedarf den weißen
Nährstoff sich geholt, diese beim Pantschenden Milch-
händler, jene in der Molkerei, wo Kuh an Kuh
ihren friedlich-nützlichen Beruf erfüllen. In heißen
Tagen wird die Milch so schnell sauer, und wehe
dem Baby, das verdorbene Nahrung erhält. Und
siehe, die Milch war entweder verbraucht, oder sie
war ungenießbar geworden.

9^me»' gellender, nervenzerreißend, tausend-
stimmig erklang der Nothruf der Flaschenkinder,
die mit Kuhmilch ihres kleinen Leibes Nothdurst
stillen. In Pantoffeln nnd Hausschuhen, flüchtig
wie ein gejagtes. Reh, eilten Mägdlein und
Weiberchen zum Milchgeschäft. Es war geschlossen.
Oede starrte der herabgelassene Laden die Ver-
zweifelnden an. Zur Molkerei, wo wiederkäuend
die Kuh das strotzende Euter beut. Geschlossen!

Während der Erwachsene bei schäumendem Bier
oder beim Gläschen Korn sich labte, lechzten die
unseligen Säuglinge, die Buben und die Mädchen
nach Milch. Eine weise Polizei hatte die Quelle
verstopft.

Verlangt nicht, daß ich erneuere den unsag-
baren Schmerz jenes Sonntags! Soll ich erzählen
von dem Martyrium der Kleinen, von den Heul-
konzerten, von: Schluchzen der Mütter, dem Fluchen
der rasch entweichenden Väter, von all dem Jammer
 
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