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1363

Berlin, stu Weihnachten,

Lieber Jacob!

Wie doch de Zeit verjeht, man wart't reene druff. Nu is schon wieder
een Jahr rum, un wieder stehen an alle Straßenecken kteene Jungs und Meechens
mit blaujesrorene Nasen und Fingern, un se quälen Dir, wenn De noch
spät Abends zu Hause drabst, bet De se doch eene Knarre oder eenen
Hampelmann abkoofen möchtest, Un dazwischen durch heerst De de Kirchen-
jlocken, aber damitlen mang braust un saust der Verkehr, Allens jagt und
hastet. Eener is den Andern sein Deibel, Jeder seht zu, wie er den Andern
det Fell jeder de Ohren ziehen kann, der Eene sitzt an seine reichbcsetzte
Tafel un weeß vor Wollust nich, wat er anfangen, womit er seinen Jaumen
kitzeln, womit er seine Anjehörigen eene Freide machen soll, un der Andere,
der sitzt in seine düstere Bodenkammer, wo der Wind durch de Ritzen seift
un der Schnee riudreibt, un er mechte sojern, un wäre et ooch blos de
jeringste Kleinigkeit, sein kranket Weib oder seine hungrijen Kinder ooch 'ne
Weihnuchtsfreide machen, un die Verzweiflung zieht mit alle Macht in sein
Herze rin, er möchte sich de Haare einzeln ausreißcn: nischt, woran er sich
anklammern könnte, keen Hoffnungsschimmer, der ihn die düstere Zukunft
een biskcn verklärt — — —• un sehste, lieber Jacob, dadrieber, ieber det
janze Bild, da brummen nu de Kirchenjlocken ihren ollen Spruch von „Friede
auf Erden!" Ra, ick habe nu so meine cijene Idee von wejen den Frieden
uff Erden, un die besten Jrinde für den Frieden, die sind immer noch
kleenkalibriger un roochloser Natur.

Nu will ick Dir, lieber Jacob, eenen juten Rath jeden. Wenn Du
so an den Weihnachtsabend ruhig zu Hause jekonunen bist, denn zieh'
Dir Deine Stiebet aus, setz' Dir in Deine Ecke, rooch' Dir eene Weih-
nachtsjiftnudel an, lass' Dir een Jlas Extrafeinen so hinstellen, det Du et
ohne besondre Mühe erjreifen kannst, buffte so'n bisken vor Dir hin, sage
keenen Ton, un denke denn mal so janz innerlich bei Dir, wat Du woll
am liebsten jeschenkt haben möchtest.

Ick möchte ja nu am liebsten eenen jcbratenen Jerichtsvollzieher, eenen
ausjestoppten Schutzmann un eenen unwattirten Leitnant in Essig un Oel
haben. Wenn ick dazu noch eenen jespicklen Ultramontanen hätte, der uff
der eenen Seite jeschoren un uff der andern Seite jescheitelt ist, denn is die
Viereiuigkeit fertig, die oogenblicklich unser politisches Dasein beherrscht.

Wenn ick also die vier Vertreter des inodernen Zustandes hätte, denn
würde ick sc nehmen un mit se nach Afrika jehen und ließe se vor Jeld
sehen. Jloobst Du, lieber Jacob, det ick damit Jeld verdienen kann, un
det de Nejer sich vor sonne Sachen interessiren? Wenn Du mir zwischen
Weihnachten un Neijahr nich darieber schreibst, dann werde ick mal nach
det Aquarium jehen, wo se jetzt eenen janz neien Jorilla haben, un denn
werde ick mal sehen, ob ick bei den Herrn 'ne Audienz kriegen kann, un
denn werde ick ihn mir mal um seine Meinung befragen.

Aber, lieber Jacob, lass' Dir dessentwegen man ja nich det scheene Weih-
nachtsfest verderben, denn et is eene Freide, jerade um die Zeit in Berlin
zu leben. Der Majistral hat nämlich de Wärmehallen uffjemacht, damit sich
zu Weihnachten man blos keen Mensch ieber kalte Beene zu beklagen hat.

Also, lieber Jacob, wenn et so is, denn können sich alle frommen un
reichen Menschen mit unjetrübtem Jenuß ihrer sojenannten Festfreide hin-
jeben. Vor Allens is jesorgt, Armulh un Elend jiebt et nich. Jeder eßt,
wat jut un dheier is. Laß' man jut sind, lieber Jacob, un lass' den Muth
nich sinken — vielleicht sind die Zeiten jarnich so fern, wo ooch wir mal
unser richtiget Weihnachtsfest feiern.

Mit diese Hoffnung un den Wunsch uff „verjniegte Feierdage" vor alle
unsere Freinde verbleibe ick wie immer erjebenst un mit ville Jrieße
Dein treier Jotthilf Naucke.

An'n Jörlitzer Bahnhof jleich links.
-♦:-

*S Hobelfpähne.

Es giebt kein Fest auf weiter Welt,

Das gleicht dem Weihnachtsfeste.

Des Christbaums buntes Licht erhellt
Die Hüllen und Paläste.

In jedes Menschen Herz sich senkt
Erwärmend daS heilige Feuer;

Den Miquel selbst berührt's — er denkt
An eine Christ baumsteuer.

Das dritte Dienstjahr soll künftig beim Militär
CC daS Strafjahr sein. Demnach befindet sich General

Caprivi in seiner Eigenschaft als Reichskanzler be-
reitS im Strafjahr, welches er für die Mangel-
haftigkeit seines „neuen Kurses" reichlich verdient hat. Glücklicherweise ist
aber auch das Strafjahr bald zu Ende und Caprivi wird seinen schweren
Dienst nächstens überstanden haben. Möge seine Ruhe nie wieder durch eine
Ernennung zum Kanzler oder Minister gestört werden!

„Es muß Arme und Reiche geben," sagte die Frau Kommerzien-
räthin, „denn sonst mangelte uns ja die Gelegenheit, bei Christbescheerungen
für arme Kinder unser edles Herz vor aller Welt zu zeigen."

Ihr getreuer Säge, Schreiner.

Zu Weihnachten muß man sich gegenseitig be-
schenken; wie man das anfängt, dazu ist manchmal
guter Rath theucr, weil in unserer herrlichen Welt-
ordnung die Einen schon Alles und die Andern
gar nichts haben. Wir wollen hier einige prak-
tische Winke erthcilcn.

Dem gegenwärtigen Reichskanzler schenke man
ein paar Schweinsblascn, die ihn beim Schwimmen
gegen den Strom vor dem Untergang bewahren.
Außerdem sollte ihm und seinen Nachfolgern ein
Fallschirm verehrt werden, der sie beim Sturz vor
Beschädigung schützt.

Dem Zentrum schenke man eine neue Wetter-
fahne, damit es immer Bescheid weiß, wenn es den
Mantel nach dem Winde hängen will. Die alte
Wetterfahne des Liberalismus taugt dazu nicht
mehr, sie kreischte zu sehr, wenn sie sich drehte; das
Zentrum dagegen schwenkt geräuschlos ein.

Dem Bismarck — ja, was schenken wir dem
Bismarck? Der ist nicht leicht zufriedengestellt, er
will immer gleich Häuser oder Rittergüter haben; in
Ermanglung einer solchen Bismarck-Spende nimmt
er freilich auch Zigarren, Bier oder Kibitzeier, und
revanchirt sich mit Kukukseiern. Wir wollen ihm
ein Exemplar von Hans Blum's „Lügen" schenken,
denn das Lügen ist jetzt doch seine Hauptbeschäftigung;
er muß es selbst thun, weil er sich auf eigene Kosten
nicht die theuren Reptilien halten kann, die er früher
auf Reichskosten mit dieser Beschäftigung betraute.

Den Herren Baare und Fusangel schenken wir
ein paar bequeme Lehnsessel, damit sie sich von der
Blamage ausruhen können, die sie sich bei ihrer
Versöhnung zugezogen haben.

Den Zünftlern schenken wir ihren Befähigungs-
nachweis, welchen sie in ihrer Mehrzahl doch nicht
leisten könnten, und Eugen Richter eine neue Serie
von Zukunftsbildern als Mitgift, damit er seine
Spar-AgneS heirathen kann.

Auch sonst soll diese Weihnachten Niemand leer
ausgehen. Die Arbeiter schenken noch immer den
Kapitalisten einen großen Theil ihres Arbeits-
ertrags. Die Kapitalisten schenken der Polizei ihr

Vertrauen und die Polizei schenkt den Arbeitern
und deren Vereinigungen ihre ungetheilte Ausmerk-
samkeit. So bekommt jeder sein Theil.

Alle Welt wünscht sich vergnügte Feiertage,
Heiterkeit und Humor dürfen also nicht fehlen, des-
halb stellt sich auch der „Wahre Jacob" bei seinen
Lesern pünktlich ein, um ihnen aus die heutigen
politischen Zustände einen Vers zu machen, den
Reaktionären zum Trutz, den Arbeitern zum Schutz.

Nom ZozialisleN'Kongreß.

Singer's Begrüßungsrede.

„R.6^18 voluntas suprezna lex“:*

Ein mittelalterlich Gewächs.

Wir sagen dagegen: Das wohl der Partei
Das ober ft e Gesetz uns sei.

Dr. Aöter's Rede.

Die Bündnisse der Diplomaten
Zerreißen leicht wie Spinnenfaden.

Die Proletarier in allen Ländern
Verbunden sind mit ehrnen Bändern.

Die Gegner.

Daß wir wachsen, vorwärts schreiten,

Ist ihr Haß uns sichres Pfand,

Nach dem Spruch aus alten Zeiten:

„Oderint dum metuant.“**

Hinfracht.

,,Jhr Proletarier, vereinigt euch!"

Das große wort, es soll uns auch bedeuten:
Seid einig und erhitzet euch nicht gleich
Durch leidenschaftlich und gereiztes Streiten.

wir kämpfen Alle für das gleiche Ziel,

Uns trennen nicht Prinzipien, noch Int'reften.
Einträchtigkeit beflügelt unfern Uiel,

Das laßt im Meinungskampf uns nie vergessen.

* Des Königs Wille sei oberstes Gesetz.

** Mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten.

Ässaß-Lothringen.

Lin ewiger Zankapfel sind sie euch,

Lin Reil zwischen Frankreich und dem Reich:
Doch eine Brücke von Land zu Land
Sind sie für uns, ein Friedensband.

Veiktiche DetegirLe.

So sehr sie verstärken das Militär,

So stark wird es nie sein wie unser Heer:
Denn Frauen auch stehen in unserer Armee
Als tapfre Soldaten der Idee.

Aus der Instrukkionsstmlde.

Korporal: Was ist der Gegensatz vom Militär?
Soldat: Das Zivil.

Korporal: Was ist also der Gegensatz vom Mili-
tarismus.

Soldat: Die Zivilisation.

Wie geben wir der leidenden Menschheit den Frieden auf
Erden, sann der Mönch Schwarz — da erfand er das Schießpulver.

Nur nicht bescheiden.

Da Bismarck betont hat, die Landwirthschaft sei zu be-
scheiden, so haben einige ostpreußisch- Großgrundbesitzer be-
schlossen, unter ihren Tagelöhnern sür sich sammeln zu lassen.

Wo Sozialisten alpinen,

Da wird dem Militär
Der Aufenthalt verboten
And jeglicher Verkehr.

Doch ach, dir Sozialisten
Verbreiten sich geschwind;

In, ganzen drntfchen Neichr
Sie anzutreffen find

Drum freut Luch! Vald wird enden
Philisters fchwere Nottz —

Vald hat das ganze Deutfchland
Das Militärvrrbot.
 
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