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- 1908

erreicht und treten ein beim Fabrikanten, der noch immer, wie seit
fünfzig Jahren, Zwanziger oder Dreißiger heißt. Unter Schmähen
und Schelten über die schlechte Arbeit zahlt der Kommis den Jammer-
lohn aus und gicbt das Garn für neue Arbeit her, und fort geht cs
wieder in die Heimath, entgegen Trübsal nnd Noth, Elend und Krank-



„Ja, Herr", wandte er sich zur Exzellenz, „die Seute tragen selbst die Schuld daran?

heit, — ohne Hoffnung, ohne Trost.

Ist es aber nicht, Herr Minister, die beglückende, den sozialen
Frieden verbürgende Verbindung von Landwirthschaft und Industrie,
die den kleinen Besitzer gegen die Verführer und Aufwiegler feit?
Haben Sie nicht in der berühmten Reichstagssitzung, wo Sie den
Sozialdemokraten so schneidig entgegentraten, diese Gegend mit ihren
landwirthschaftlichen Hausindustriellen als den Musterbezirk geschildert?
Rief das nicht eben Einer dem Rastenden ihm in die Ohren? Oder hat
er's blos geträumt? Es ist so heiß, so schwül, und Seine Erzellenz
sind solche Fußpartien nicht mehr gewöhnt.

Gottlob! Es ging bergab. Unten im Thal würde er seinen Wagen
wieder finden. Hier aber schien in der Thal die
Bevölkerung eine rückständige zu sein; mein
Gott, die Zeiten ändern sich ja, und die Men-
schen sollten sich den Forderungen der Zeit an-
bequemen. Wenn die Fabriken die Hausindustrie
uninöglich machen, dann schafften sie dafür auch
wieder reichlich Arbeitsgelegenheit für die Frei-
gesetzten. Ueberhaupt da unten!. Da herrschten
Fleiß, Betriebsamkeit, Zucht und Ordnung.

Dort am Eingang des Thales waren ja die
großen Werke des frommen, königstreuen, ge»
sinnungstüchtigen Kommerzienrathes Muckerle.

Hatte der nicht den Thalbewohnern und den
Gebirglern Brot und Verdienst in seinen Spinne-
reien, seinen Sägewerken, seinen Glashütten ver-
schafft? Ragt dort nicht Fabrik an Fabrik,

Mühle an Mühle, Schlot an Schlot? Drängten
sich dort nicht Hunderte von Arbeitern, Groß
und Klein, Alt und Jung, Männer und Weiber?

War er nicht berufen im ganzen Lande, der edle
Musterknabe durch seinen eifrigen Kirchgang,

durch seine heiligmäßigen Ansprachen an jcinc Arbeiter, durch seine
Wöhlfahrtseinrichtungen? Hatte er nicht eine Krippe für die Kindlein
gestiftet, deren Eltern und erwachsene Geschwister bei ihm schafften, und
eine Nähschule für Fabrikmädchen und eine Kochschule und einen Gesang-
verein? Ließ er nicht, der Gute, wenn die Weiber Nachts arbeiteten,

die Erschöpften aufnruntern
durch die Klänge einer
Ziehharmonika? Hier war
Harmonie, hier war das
Arbeiterglück.

Im Fabrikdorf traf er
elende Baracken, Arbeiter-
wohnungen, wo die Men-
schen schlimmer hausten, als
der Seidenpudel der Frau
Erzellenz. Die Leute ge-
drückt, verkümmert, ver-
bittert. Die Einen Bauern,
die noch nebenbei taglöhner-
ten, die Anderen Bauern-

_ - ■ . söhne und Bauerntöchter,

die nur noch in die Fabrik
gingen, lieber dem Orte aber hing die graue, erkältende, erstickende
Wolke der Kümmerniß. Die Sorgen ums tägliche Brot, die wie
Hunde beißen, gingen um, sie schauten aus jedem Fenster, sie
schlichen zu den Arbeitssälen, ihr Gifthauch verpestete die Luft.
Dunipfer Groll ballte die Faust, die Gewitterschwüle drückte
auf die Gemüther. Und Hohn spielte um die Lippen der aus-
gemergelten Spinner, der schwindsüchtigen Glasbläser, als er sie
nach den Wohlfahrts-Einrichtungen fragte.

„Hier, in der Nähschule, lernen unsere Mädels unsere
Lumpen flicken. Was zahlt er uns solche Hungerlöhne, der
Herr Muckerle, daß wir in BettelmannSgcwändern laufen müssen,
zerstückt, zerlappt, geflickt, ein Jahr ums andere. Und die Koch-
schule? Müssen wir nicht den Schmachtrieinen täglich enger
! ziehen bei sechzig, sicbenzig Pfennig Lohn? Wassersuppe kochen
und Kartoffeln sieden, dazu bedarf's keines Unterrichts. Waruni
legt er nicht zu, der Herr Muckerle, daß es ab und an einmal
langen thät zu einem Stück Fleisch oder Wurst oder Speck?"

„Ihr habt's gar nicht anders verdient, Ihr demüthigen Gesellen,
die Ihr Euch nicht tief genug beugen könnt, tvenn der großmächtige
Herr Geheime Koininerzienrath Muckerle an Euch vorbeifährt! He,
Hab'ich nicht Recht?"

Das sagte der Schmied vom Dorf, ein vielgereister Mann, der
kein Blatt vors Maul zu nehmen pflegte, tvenn er etwas auf dem
Herzen hatte.

„Ja, Herr", wandte er sich zur Erzellenz, „die Leute tragen
selbst die Schuld daran, daß der Muckerle sie jetzt tritt und schindet;
nicht nur, daß sie sich von ihin leiblich auöbeuten lassen, nein, sie
wählen ihn auch noch in den Landtag und
Reichstag. Muß da nicht die Regierung über-
zeugt sein, daß hier Alles wohl bestellt sei?
Donnerwetter, in diesem verdammten Nest hat
Keiner mehr den Muth, dem Muckerle zu sagen,
was er von ihm denkt, ihm zu sagen, daß er

ein großer---"

* *

*

Da hält der Wagen. Der Minister steigt
ein, geärgert, verschnupft, erregt. „Fahr zu,
Johann, fahr zu, rasch, was die Gäule laufen
können."

Johann schnalzte mit der Zunge, strich mit
der Peitsche über die muthigen Traber und über
die ebene Straße flog der Jagdwagen, daß die
Arbeiter rasch zur Seite springen mußten. Bald
sah man nur noch eine dicke Staubwolke, die
emporwirbelte, grau, gespenstisch, wie ein Schleier,
der das da hinten verhüllt, verbirgt, verschwin-
den macht.

Fahr zu, Johann, fahr zu!

Bernntioortlich für die Redaktion Georg Baßler in Stuttgart. - Druck und Verlag von I. H. W. Dich in .Stuttgart.
 
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