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1942

„Wegen dem da", erwiederte der Andere, auf die bedruckten Blätter
zeigend, „wegen Verbreitung sozialdemokratischer Flugblätter!"

„Geben Sie her!" rief der junge Mann schnell, und nahm ohne
Weiteres die Blätter.

„Aber dann kommen Sie —“

„Ins Quartier, hoffentlich!"

„Aber jetzt fort mit Ihnen", sagte der neue Inhaber der Flug-
blätter. „Doch halt! Gehen Sie in den vierten Stock links zur Frau
Meyer, schauen Sie sich die frei gewordene Schlafstelle an und fragen
Sie, wer bisher darin wohnte. Dann wird sie Ihnen so viel Schlimmes
von meiner Zahlungsfähigkeit erzählen, daß inzwischen die Luft rein
geworden ist."

Diesen Rath befolgend, eilte der Flüchtende nach oben. Der Andere
nahm ein Flugblatt und versuchte es in die Spalte der nächsten Thür
zu klemmen. Dabei wurde er unsanft am Kragen gepackt.

„Was thun Sie hier?" donnerte ein Gendarm ihn an.

„Ich vertheile Flugblätter",
war die Antwort.

„Wie können Sie sich das
unterstehen?"

„Ich m u ß sie verbreiten",
sagte der junge Mann mit wichtiger
Betonung.

„Warum?"

„Damit sie alle werden."

„Der Spaß wird Ihnen ver-
gehen", erwiderte der Gendarm.

„Die Blätter sind schon seit gestern
Abend konfiszirt, die Druckschrift
ist also verboten. Geben Sie her!"

Er nahm ihm die Blätter ab.

„Danke!" sagte Jener, die
Hände in die Taschen steckend.

„Sie sind verhaftet!"

„Sehr angenehm!"

Jetzt verlor der Gendarm die
Geduld. „Werden Sie nicht frech,

Sie verwünschter Sozi!"

„Bitte sehr, Rudi ist mein
Raine."

Man führte ihn in Arrest;
er musterte seine Zelle mit großer
Genauigkeit.

„Ein Hotel ersten Ranges
scheint es nicht zu sein", sagte er
zu dem Aufseher, „aber so gut wie
bei der Frau Meyer ist es iminer-
hin, und man wird hier hoffentlich
nicht an die Luft gesetzt, wenn man keine Miethe zahlt."

Am anderen Morgen hatte Rudi seine erste Vernehmung vor dem
Amtsrichter. Er gab Namen und Heimathsort genau an.

„Womit beschäftigen Sie sich?" fragte der Amtsrichter.

„Mit Arbeitsuchen."

„Na, davon können Sie doch nicht leben."

„Da haben Sie Recht, Herr Amtsrichter, das habe ich auch schon
empfunden."

„Sie wohnen?"

„Nein!"

„Ich frage, wo Sie seßhaft waren, als man Sie verhaftete."

„An die Luft hat man mich gesetzt, seitdem wohne ich nicht mehr."

„Nun, zur Sache", fuhr der Richter fort. „Sie haben sozial-
demokratische Flugblätter verbreitet?"

„Ja."

„Wer hat Sie dazu angestiftet?"

„Ich selbst; ich that es aus eigenem Antriebe."

„Wie kommen Sie dazu?"

„Ach, es wirkt so hübsch erwärmend, wenn man immer die
Treppen auf und ab geht. Das ist mein liebstes Sonntagsvergnügen."

„Sie scheinen recht verstockt zu sein. Wissen Sie, wer die Flug-
blätter verfaßt hat?"

Rudi überlegte und gelangte zu dem Schluß: „Jetzt nehme ich
schon Alles auf mich."

„Ja", antwortete er.

„Wer?" fragte der Richter gespannt.

.Ich."

„Unsinn!" rief der Richter. „Können Sie denn solche sozialpolitische
Aufsätze schreiben?"

„Wenn ich Zeit habe, schon."

„Nun, die Untersuchung wird ergeben, wie viel von Ihren Angaben
wahr ist", schloß der Richter. „Da Sie in der Hauptsache geständig
sind, könnte ich Sie aus der Haft entlassen, lvenn Sie nicht flucht-
verdächtig wären. Wohin würden Sie sich begeben, wenn ich Sie
entlasse?"

„Nach Paris oder nach Konstantinopel", sagte Rudi, dem die Ent-
lassung bei so strenger Kälte nicht
willkommen war.

„Ohne jedes Reisegeld?" fragte
der Richter ungläubig.

„O, ich habe wohlhabende Ver-
wandte", log der Angeklagte weiter.
„Mein Bruder ist Vortragender Rath
im Ministerium."

„Oho! — im preußischen?"
„Nein — im ungarischen
Ministerium."

„Wie käme er — als deut-
scher Reichsangehöriger — dort
hin."

„Mein Gott, bei dieser schlech-
ten Zeit nimmt man eben Arbeit,
wo man sie findet", erklärte Rudi
naiv.

„Schon gut", sprach der Amts-
richter, „ich sehe, Sie sind ein ganz
durchtriebener Bursche. Es wird
hiermit die Fortdauer Ihrer Unter-
suchungshaft bis zur Hauptverhand-
lung beschlossen."

„Gott sei Dank", sagte Rudi,
als er abgeführt wurde.

Ein Hotel ersten Ranges scheint es nicht zu sein.

Es war gegen Ende des März
und ein herrlicher Frühlingstag, als
die Hauptverhandlung gegen Rudi
angesetzt war. Man brachte ihn zunächst in einen Warteraum, dcffen
große Fenster ins Freie mündeten. Hier sah er die keimende Herrlichkeit
des Frühlings und die milden weichen Lüfte drangen grüßend und
lockend zu ihm herein. DaS war ganz anders, als in der engen Zelle
mit dem kleinen Klappfenster an der Decke, welches wenig Luft und
Licht einließ. Der Gefangene war überrascht vom Glanze des Frühlings
und beschloß: „Jetzt ist es genug des Verweilens im Winterquartier;
heute lasse ich mich freisprechen."

Der Gerichtshof war versammelt und Rudi nahm seinen Platz auf
der Anklagebank ein. Vor ihm saß ein Vertheidiger, der seinen Prozeß
freiwillig übernommen hatte. Derselbe gab dem Angeklagten in freund-
licher Weise einige Verhaltungsmaßregeln. Der Zuhörerraum war über-
füllt und zwar, wie sich mit der Zeit herausstellte, fast ausschließlich
von Sozialdemokraten.

Nachdem die Persönlichkeit Rudi's nochmals genau festgestellt
war, gab der Präsident ein Resumö aus den Akten des vorliegenden
Falles, und daraus erfuhr der Angeklagte erst, um was es sich eigentlich
handelte.

Es war im Januar ein die Gemeinde-Angelegenheiten betreffendes
Flugblatt von den Sozialdemokraten herausgegeben worden; dasselbe
hatte die Vertreter der herrschenden Klassen so scharf angegriffen und
die Lage der Arbeiter in so schroffen Gegensatz zu der Lebensweise der
 
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