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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 13.1896

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https://doi.org/10.11588/diglit.8183#0013
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%\mitt Vellage zmn „Magren Jacrik" Lr. 247.

Johann Heinrich 'Vestalo^L.

Zu seinem (50. Geburtslag.

Mit dem Volksschulwesen war es im 17. Jahrhundert in
Deutschland und der Schweiz, wie überhaupt in ganz Europa, schlimm
bestellt. Welches Interesse hatten auch die herrschenden Stände an der
Volksbildung? Das Volk war ja nur da, um von Fürsten, Junkern und
Pfaffen ausgesogen und geschunden zu werden. Je stupider, unwissender,
ungeschickter es war, desto besser, desto geduldiger trug es sein Joch, desto
williger ließ es sich scheercn. Und um es noch künstlich zu verdummen
und jede rebellische Regung zu ersticken, dazu war das psäffisch verfälschte
Christenthum ein vortreffliches Mittel. Aber auch in den Latein- und
Klosterschulcn und Universitäten war die Pädagogik (die Kunst der Er-
ziehung und des Unter-
richts) noch ein sehr küm-
merliches und verküm-
mertes Pflänzchen.

An Anläufen zur
Besserung hatte es zwar
schon früher nicht gefehlt.

Schon Ainos Comenius
(geboren 1592 in Mähren,
gestorben 1871) war eif-
rig bestrebt, die allgemeine
Volksbildung zu heben
und die Pädagogik in neue
gesundeBahnen zu lenken.

Locke in England, I. I.

Rousseau in Frank-
reich, dessen „Emil" rasch
zur Berühmtheit gelangte,
und die in seinen
Fußstnpscn wandelnden
deutschen Philanthro-
pistcn (Basedow u. A.)
haben manche verständige
Grundsätze aufgestellt und
auch da und dort praktisch
zur Geltung gebracht. Im
Großen und Ganzen aber
blieb das Schulwesen und
namentlich dieVolksschule
unberührt davon. Es
konnte nicht genügen, auf
einzelne Verbesserungen
in der Erziehung und Un-
terrichtsmethode hiuzu-
wirken: cs mußte „der
allgemeine europäische
L-chulivagen nicht blos
besser angezogen, sondern
vielmehr umgedreht und
ans eine ganz neue Straße
gebracht werden".

Das hatPestalozzi
nicht nur erkannt, son-
dern auch durchgeführt
und ist so der Reformator
der Pädagogik unb ihr
wissenschaftlicher Begründer überhaupt, und speziell der „Vater der Volks-
schule" und Bahnbrecher der allgemeinen Volksbildung geworden.

Und das wurde Pestalozzi nicht als kühl reflektirender, nüchterner
Verstandesmensch, sondern aus glühender Liebe zuni Volk und tiefem
Mitleid mit seiner jainmervollen sozialen Lage. Die Liebe zu den
armen Klassen, aus der manchmal der Zorn über die brutale Unter-
drückung durch die einheimische Aristokratie hell auflodcrte, entflammte
seinen Geist, auf Mittel zu sinnen und Wege zu entdecken, das Volk aus
seiner schmachvollen Lage zu befreien, ihm Hilfe und Erlösung zu bringen.
Hätte er in Frankreich gelebt, wäre er wohl einer der feurigsten Kämpfer
der Revolution gewesen. Als Bürger der Schweiz, die er nur zweimal
auf kurze Zeit verlassen hatte, lenkten sich seine Gedanken vornehmlich
auf die Volksbildung. Durch Erziehung und Unterricht wollte er
Jeden, vor Allen: die „Mühseligen und Beladenen", zu einem menschen-
würdigen Dasein erheben. Zu diesem Zweck wollte er die in jedem

Menschen so reichlich schluunnernden Kräfte, Talente, Anlagen wecken,
entbinden und zur höchsten Entfaltung bringen. Selbstzweck sollte auch
der Niedrigste sein, nicht „brauchbarer Staatsbürger" für die Zwecke
der herrschenden Klassen. Das Volk durch Bildung frei zu machen, es
zu befähigen, sich selbst zu befreien, war der Lebenszweck, den er sich
stellte und dem er sich mit bewundernswerther, opferfreudiger Hingebung
und Ausdauer widmete. Daß sein Leben eine Dornenbahn ivar, braucht
kaum bemerkt zu werden.

Johann Heinrich Pestalozzi wurde am 12. Januar 1746 in
Zürich geboren. Seinen Vater, der Augenarzt mar, verlor er schon im

sechsten Lebensjahr. Unter
der Leitung der Mutter,
die von einer ivackeren
Magd, Babeli, unterstützt
wurde, wuchs er auf, als
ein rechtes „Weiber- und
Mutterkind". Er schlug
zuerst die theologischeLauf-
bahn ein, verließ sic aber
bald, uni als Jurist deni
Volke besser dienen zu
können. Schon in seinen
Jugendjahren regte sich in
ihm lebhaft der Gedanke,
das Volkserzichungswesen
zu vereinfachen und auf
eine rationelle Grundlage
zu stellen, und mit Be-
geisterung wurde er für
denselben ergriffen, als
er den „Emil" Rousseaus
gelesen halte. Unter dem
Einfluß dieses Buches,
dessen Schlagmort die
Rückkehr zur Natur (von
derVer- undAsterbildung)
war, faßte er den Ent-
schluß, dcmNcchtsstudiuin
zu entsagen und sich dem
Landbau zu widmen, um
in und mit dem Volke
wirkend durch Errichtung
einer eigenen Mustcr-
wirthschaft besonders den
Aermeren den Weg zu
zeigen, auf dem sie sich
zu einer besseren ökonomi-
schen Lage emporarbeiten
können, und deren Wohl-
stand, Intelligenz und
Sittlichkeit zu heben. Er
erlernte die Landwirth-
schaft und erwarb 1775
das verödete Landgut
„Neuhof" bei Birr in
der Nähe der Habsburg,
verheirathcte sich und sing zu wirthschaften an, war aber bald zu Grunde
gerichtet. Nun machte er den Neuhof zu einer Erziehungsanstalt für arme
Kinder, um ihn damit zu einem festen Mittelpunkt seiner pädagogischen
und volkswirthschaftlichcn Bestrebungen zu erheben. Fünfzig arme Kinder
samnielte er um sich und beschäftigte sie im Sommer mit Feldarbeit, im
Winter mit gewerblichen Arbeiten; daneben wurden sie von ihm unterrichtet.

Aber weder bei den Zeitgenossen noch bei den Behörden fand er Ver-
ständniß und Unterstützung und unter Verlust des größten Theils seines
Vermögens mußte er 1780 die Anstalt auflösen. Indessen „mitten im Hohn-
gelächter der mich wegwerfenden Menschen hörte der mächtige Strom meines
Herzens nicht auf, einzig und einzig nach dem Ziele zu streben, die Quellen
des Elelids zu verstopfen, in das ich das Volk uin mich her versunken sah,
und meine Kraft stärkte sich, mein Unglück lehrte mich immer mehr Wahrheit
für meine Zwecke". In demselben Jahre schrieb er die „Abendstunden eines
Einsiedlers", worin er seine Ideen in knappen Zügen darlegte. 1781
 
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