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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 18.1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.6609#0068
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3467

„So viele Todte? Alle pff?" Adam machte
die Geste des Schießens.

„Alle pff!" wiederholte der Professor.

„Nicht gut, nicht recht — Hab' gelernt: Du
sollst nicht tödten." Adam dachte an seinen
Katechismus und schüttelte tadelnd den Kopf.

Der Professor lachte: „Ja, ja, mein lieber
Sohn, das ist schon richtig. Aber es ist ein
unerbittliches Gesetz, daß ganze Völker und
überhaupt die Politik keine Moral befolgen
können wie der Einzelne. Nun, das verstehst
Du noch nicht."

Adam machte ein dummes Gesicht.

Sie gingen weiter und kamen am inschrift-
losen Reichstagsgebäude vorbei. „Was das
sein?" fragte Adam.

Herr Christophorus Falke besann sich und
seufzte. Die Politik war seine schwache Seite
und so sagte er: „Ich bin nie draus klug ge-
worden. Man nennt die Leute, welche hier
zusammenkommen, den Reichstag. Die Guten
sitzen darin auf der rechten, die Bösen auf der
linken Seite. Die in der Mitte sind schwach
auf den Füßen und fallen oft um, glücklicher-
weise meistens nach der rechten Seite. Doch,
das verstehst Du noch nicht."

Adam verstand es wirklich nicht.

Bald darauf schritten sie durch eine stille
Straße. In vielen Häusern waren fast sämmt-
liche Fenster mit Jalousien geschlossen. „Warum
zu?" forschte Adam.

„Die Herrschaften, denen die Wohnungen
gehören, sind nicht hier, weil es nun bei uns
zu kalt ist. Sie haben sich in wärmere Län-
der geflüchtet."

Sie waren nicht viel weiter gekommen, als
eine seltsame Fuhre sie zum Stehenbleiben
nöthigte. Auf einem erbärmlichen, wackligen
Handwagen waren etliche Möbel und ärmliches
Küchengeräth geladen. Ein Mann in geflickten
Kleidern keuchte daher, den Wagen hinter sich
ziehend. Eine blasse, abgehärmte Frau unter-
stützte ihn, indem sie an der Seite schob. Da-
bei liefen ihr die Thränen an den Wangen
herab. „Was das sein?" fragte Adam wieder.

„Hm." Der Professor faßte in die Tasche und
gab der Frau einen Nickel. „Das sind arme
Leute, welche keine Wohnung finden können."

Adam riß die Augen auf und sagte: „Du
lügst."

„Was?!" Jetzt erstaunte Falke.

Adam zeigte hinter sich: „Du eben gesagt:
dort Wohnungen leer — viel, viel!"

Der Professor lachte auf: „Man sieht, daß
Du aus dem Urwalde stammst, wo sich Jeder
einen beliebigen Ast aussuchen kann. Nein,
so rückständig sind wir doch nicht! Die
Wohnungen, welche wir sahen, sind nur für
Herrschaften; dieses aber sind arme Leute, die
kein Geld oder doch wenig haben. Die Woh-
nung steht fast immer in entsprechendem Ver-
hältnis zu der jeweiligen sozialen Position,
die eine tiefe, mittlere oder höhere sein kann."

Adam murmelte etwas vor sich hin.

Bald darauf fesselte ein Streit ihre Auf-
merksamkeit. Vor einem riesigen Kohlenlager,
dessen schwarze, glänzende Bestände ausgereicht
haben würden, mehrere hundert Familien einen
ganzen Winter über zu versorgen, stand eine
arme Frau mit einem Henkelkorbe an: Arm
und stritt sich mit einem jungen Mann, der
aus dem Kontor getreten war. Sie wollte
nur diesen kleinen Korb voll Abfall sammeln;
oder, wenn dies Nichtsein sollte, für ihre letzten
zehn Pfennige Kohlen kaufen.

„Sie sind woll verrückt," sagte der junge
Mann, „machen Sie, daß Sie rauskommen.

sonst ruf ich'n Schutzmann. Man friert sich
ja die Finger blau!"

Die Frau ging verzweifelt ab.

Adams Gesicht verzerrte sich zu grimmiger
Wuth und er machte Miene, den jungen Mann
durch schlagende Gründe von der Ungerechtig-
keit seiner Handlungsweise zu überzeugen.

„Sind doch genug," knurrte Adam. „Da!
Kohlen, alles Kohlen — und nicht geben!
Pfui! Böse, schlecht! Sollst deinen Nächsten
lieben — Hab' so gelernt."

Christophorus Falke fand nicht gleich eine Ant-
wort. Dann sagte er: „Du bist ein Schafs-
kopf, Adam!"

Vor der Stadtbahn und ihren gewaltigen
Hallen standen dann endlich wieder einmüthig
bewundernd Professor und Schüler. Sie waren
in der Friedrichstraße und gingen der Straße
Unter den Linden zu.

Ein Auflauf hemmte sie plötzlich wieder.
Vor einem Hause mit großen Spiegelscheiben
war ein Mann hingesunken. Ein großer, dicker
Herr mit weingeröthetem Gesicht blickte über
die Zuschauer hinweg auf den Daliegenden
und sagte: „Der Kerl ist besoffen." Viele
lachten, einige bemühten sich um den Zusammen-
gebrochenen.

Adam stierte bald auf diesen, bald rechts,
bald links in die Spiegelscheiben der Läden.
Aus der Thür rechts drang ein wohlriechen-
der Duft frischen Vackwerks, große Wasch-
körbe voll Brötchen und Semmeln standen am
Boden, Kuchen lockten in leckerer Fülle im
Fenster und an den Wände» war in riesigen
Regalen Brot um Brot aufgespeichert. Wandten
sich seine Augen links, so sahen sie Schinken
und Würste, Speckseiten, frisches Fleisch und
allerlei Delikatessen ausgebreitet auf den viele
Meter langen Marmorplatten des Ladens.

Eine Bewegung entstand unter den Leuten.
Der Mann in der Thür war unter schreck-
lichen Zuckungen gestorben; ein vorübergehen-
der Arzt beugte sich zu ihm, untersuchte und
sagte lakonisch: „Verhungert." Es war ein
Glück, daß er tobt war, da er sonst noch wegen
Verursachung eines Auflaufs hätte bestraft
werden können.

Der Anblick des Tobten mit seinem verzerrte»
Antlitz und den geballten Händen brachte Adam
fast aus dem Häuschen. Offenbar hatte er sich
noch nicht die kaltblütige, achselzuckende Ruhe
des hochentwickelten Kulturmenschen angeeignet.
Er murmelte fortwährend abgerissene Worte
vor sich hin: „Pfui! Böse! Schlecht!"

Auch der Professor schritt zunächst gesenkten
Hauptes weiter; ein unangenehmes Gefühl
schnürte ihm die Kehle zu. Schließlich sagte
er seufzend: „Du hast recht, Adam. Es ist
schrecklich, und wir müßten doch noch etwas
mehr in der Privatwohlthätigkeit thun."

Adam schaute verblüfft den Professor an.
Dann schüttelte er wieder den Kopf. Er ver-
stand auch das nicht.

Der Professor grüßte einen Herrn, der auf
der Straße daherschlenderte. „Das trifft sich
großartig, Adam. Dieser Herr ist Besitzer
einer bedeutenden Fabrik. Wunder kannst Du
dort sehen!"

Felix Kranold, ein kleiner, dicker Herr, war
gern bereit, die Besichtigung seines Etablisse-
ments zu gestatten. Sie bestiegen einen Wagen
und sauste» in die Vorstadt. Hier hielten
sie vor einem großen, gefängnißartigen Ge-
bäude aus rothen Backsteinen.

Sie waren kaum eingetrete», als Adam ganz
beklommen zu Muthe ward. Ein Sausen,
Rattern, Hämmern und Feilen umfing ihn

plötzlich; er sah mächtige Räder sich drehen
und Schrauben, Wellen, Zylinder wie im
Fluge rundum gehen. Ein seiner Staub lag
in der Luft. Der Geruch von Schmieröl und
Leder überwältigte ihn fast und benahm ihm
den Athen:. Hunderte von Arbeitern hantirten
in der langgestreckten Halle mit intensiver Ge-
schäftigkeit. Unter den aufgekrempelten Aer-
meln der Kittel und Blusen sah Adam das
Spiel der Muskeln und Sehnen, und ein Ge-
fühl der Bewunderung vor diesen schweigsam
und sicher schaffenden Männern beherrschte ihn.

Der kleine, dicke Fabrikbesitzer war bei Seite
getreten und sprach mit dem Werksührer, der
eifrig auf ihn einredete. Kranold aber schüt-
telte den Kopf und sagte wiederholt: „Nein!
Da wird nichts draus!"

Der also Angeredete kehrte sich schließlich
mit verzweifelnder Geberde ab und wandte
sich einem großen, schwarzbärtigen Arbeiter zu.
Dieser hielt mit seiner Arbeit inne, sagte ruhig:
„So, also nicht?" und rief seinen Neben-
männern einige Worte zu, die sich blitzartig
in: Saale verbreiteten. Dann machte sich ein
Zischen und Schleifen, ein kurzes Rucken überall
bemerkbar und plötzlich, wie auf Kommando,
standen sämmtliche Maschinen still.

„Unangenehme Geschichte," sagte Kranold
zum Professor. „Streik! Vielleicht hören Sie
die sogenannten .Verhandlungen' mit an."

Eine Kommission der Arbeiter trat an den
Fabrikbesitzer heran. Der große Schwarz-
bärtige war der Sprecher. Er forderte im
Namen seiner Kollegen einige Aufbesserungen,
die er in einfacher und klarer Weise begründete.

Adam hörte gespannt zu und nickte oft bei-
fällig. Ihm kam das Alles so selbstverständ-
lich vor, daß er die Augen weit aufriß, als
Kranold kurz und schroff antwortete, er lasse
sich in seinen: Betriebe keine Vorschriften
machen. Damit basta!

Die Arbeiter kehrten sich schließlich achsel-
zuckend um. Adam wurde immer verwunderter.
Was, diese Vielen ließen sich von dem Einen
da einfach auf die Straße setzen? Und plötzlich
hatte Adam den Fabrikbesitzer gepackt und schüt-
telte ihn derbe: „Pfui! Bösewicht! Schlechter
Kerl! Willst Du thun! Willst Du thun!»

Der Fabrikbesitzer riß sich los, schimpfte auf
Adam und schrie: „Verhungern mögen sie,
wenn sie —" Er konnte den Satz nicht voll-
enden. Verhungern! Adam hatte ihn von
Neuem umklammert, hob ihn hoch in die Luft,
ließ ihn einige Flugbewegungen machen, brachte
ihn dann auf einem Werktisch in eine horizon-
tale Lage, die Reversseite nach oben, und
brüllte: „Wirst Du lieben Deinen Nächsten!
Schlechter Kerl! Wirst Du lieben Deinen Näch-
sten!" Und :::it den Fäusten trommelte er die
Melodie zu diesem Text.

Alles dies ging blitzartig vor sich.

Das Gemüth des Unternehmers war doch
nicht verhärtet genug, um solchen beweiskräf-
tigen Argumenten widerstehen zu können. Er
bat um eine kleine Unterbrechung dieser Ver-
handlungen und einigte sich dann schnell mit
den Arbeitern.

Bald darauf rasselten die Maschinen wie-
der. —

Herr Christophorus Falke stand da wie eine
Statue, welcher der Hals geknickt ist. Dann
erholte er sich allmälig und sagte sinnend:
„Ich habe es falsch angefangen. Ich hätte
ihn: erst einen Kursus in höherer Logik geben
müssen."
 
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