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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 18.1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.6609#0072
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Sie kniete vor dem Eckstein, auf dem ste gesejfen, nieder.

„Du kannst gleich wieder gehen, wenn Du
willst, mein Kind", antwortete ich, meine tiefe
Bewegung über den Sinn jener Worte so viel
als möglich verbergend, „aber ich denke, da Du
nicht nach Hause willst, so könntest Du wohl
lieber hier bleiben, wo es warm ist, als draußen
in der Kälte."

Sie richtete einen Blick des Erstaunens auf
mich, wie Jemand, der wohl Worte gehört, aber
nicht verstanden hat... Dann nickte sie mit dem
Kopfe, als fände sie jetzt den Schlüssel zu dem
Verständnis; und murmelte leise vor sich hin:
„Ja, ja, er hat recht, ich bin nicht hübsch und
nicht lustig genug. Ich werde wieder kein Geld
nach Hause bringen."

„Du irrst, mein Kind", sagte ich, ihre Ge-
danken beantwortend, „ich werde Dir Geld geben,
wenn Du es brauchst, aber dafür verlange ich —"

„Ich weiß, ich weiß", unterbrach sie mich hastig,
indem sie das Tuch vom Kopfe nahm.

„Du irrst wieder, mein Kind. Ich verlange
nichts Unrechtes von Dir."

„Unrechtes! Hörten Sie nicht, daß meine
Mutter die Schwindsucht hat und verhungert?
Ja, Unrecht wär's, wenn ich's hindern könnte
und ich thät's nicht. Was liegt an mir? ... Thu'
ich's nicht, dann schlägt er mich doch wieder, wie
heute Morgen, wo ich ohne Geld nach Hause
kam."

„Wer schlägt Dich denn?"

„Der Mann meiner Mutter."

„Dein Vater?"

„Nein, der Mann meiner Mutter. Mein
Vater ist todt."

Ich zitterte, eine neue Frage zu thun, die mir
Gewißheit bringen mußte. Aber ich zwang mich dazu.

„Wann ist er gestorben?"

„Heute sind's gerade zwei Jahre."

„Wie ist er gestorben?"

„Er ist auf der Barrikade von den Soldaten
todtgeschossen worden."

Es war die Tochter des Märzkämpfers,
des Lebensretters von Karl, welcher zu derselben
Stunde seinem Andenken eine Thräne geweint,
als seine Tochter ein paar Schritte von dein Eck-
stein saß, auf welchem ihr Vater verblutet hatte,
hungernd, frierend und — ■--

* -i-

*

Die Geschichte der Armen war kurz. Vergeb-
lich hatte ihre Mutter bei der „Kommission für
die Hinterbliebenen der gefallenen Märzkämpfer"
um eine Unterstützung gebeten. Sie hatte nicht
den „Geschäftsweg" eingeschlagen und war wieder-
holt abgewiesen worden. Gedrückt durch Kummer
und Sorge, hatte sie sich wieder verhcirathet, um
ihren Kindern Brot zu schaffen. Aber ihr Mann
hatte sich dem Trünke ergeben, bis selbst die kleinen
Ersparnisse ihrer früheren Ehe darauf gegangen.
Hunger und Elend waren wieder bei ihnen ein-
gekehrt. Die Tochter hatte zuerst in einer Stroh-
hutfabrik gearbeitet, aber als ihre Mutter, die
schon lange durch die rauhe Behandlung ihres
zweiten Mannes gebeugt, gekränkelt, der Pflege
bedurfte, hatte sie die Fabrik verlassen, um bei
ihrer schutzlosen Mutter zu bleiben. Da hat sie
der Mann eine faule Dirne geheißen und aus
dem Hause geworfen mit der Drohung, sie zu
schlagen, wenn sie wieder ohne Geld zurückkäme.
Sie hatte Arbeit gesucht, aber nicht erhalten; sie
hatte gebettelt, aber es nicht verstanden und mar
leer abgewicscn worden. Da war ihr einst ein
junger Mann gefolgt und hatte ihr Anträge ge-
macht, die sie entrüstet zurückgewiesen. Aber am

folgenden Tage hatte der Vater ihr erklärt, daß
er sie vermiethet habe. Mit der Adresse ihrer
Herrschaft in der Hand war sie ausgcgangen,
um ihren Dienst anzutreten. Da hatte sie in
ihrem Herrn jenen jungen Mann erkannt, der
sie verfolgt... Mehr der Gedanke an ihre Mutter
als die Furcht vor ihrem Vater hatte sie zurück-
gehalten, gleich wieder nach Hause zurückzukehren.—
Durch das Versprechen, für ihre Mutter zu sorgen,
war es ihrem Herrn endlich gelungen, sie zu ver-
führen. Anfangs hatte er seine Versprechungen
erfüllt, aber schon nach wenigen Wochen war er
ihrer überdrüssig geworden, hatte sie „wegen Un-
gehorsam" aus dem Dienste gejagt und sich nicht
weiter um sie gekümmert.

Wie sie seit dieser Zeit gelebt, was sie von
der Rohheit ihres Vaters, von dem Kummer über
ihre sieche Mutter, von der Brutalität der Männer,
denen sie sich, gedrängt durch Noth und Ver-
zweiflung, hingegeben, erduldet — wer vermag
dergleichen Schilderungen wiederzugeben!

Wie rührend erschien mir das hingebende Ver-
trauen, mit welchem diese entblätterte Rose das
Gemälde ihres Unglücks in ihrer einfachen, aber
ungekünstelten Weise vor mir aufrollte!

* *

*

Was that ich? Die Mutter starb nach wenigen
Wochen, bevor ich noch Berlin und Europa ver-
lassen. Ihre Tochter habe ich mit hinüber ge-
nommen nach Australien, wo sie, von mir und
meiner Frau mit Liebe behandelt, unsere kleine
Wirthschaft besorgt, und wo unter den: heiteren
tropischen Himmel und durch das geschäftige
Wirken in der neuen Heimath die trüben Er-
innerungen der alten allmälig zu erblassen be-
ginnen. (Aus dem „Leuchtthurm", wso.)
 
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